Die andere Seite der Waldorfmedaille

Die Waldorfschulen haben großen Zulauf, mehr als 150 gibt es in Deutschland / In den vergangenen Jahren sind die kritischen Stimmen zur Pädagogik à la Steiner lauter geworden  ■ Von Thorsten Schmitz

Als Markus* 13 wurde, färbte er sich, zur Feier des Tages, die Haare blond und tunkte sie in Zuckerwasser. Für die nächsten zehn Jahre, war er sich sicher, werde er so „die Leute schocken“. Tatsächlich hatte sein Punk-Look den Effekt eines mittleren Erdbebens. Das Kollegium der Waldorfschule in Frankfurt am Main fand, daß die blonden Haare den Seelenfrieden gefährdeten; man bat Markus' Eltern zum Tête-à-tête. Sollten sie seinen Ausflug in pubertäre Experimentierfreudigkeit nicht sofort stoppen, müsse er „leider“ die Schule verlassen. Eine Woche nach seinem Geburtstag trug Markus wieder Naturbraun.

Kathrin* war von Geburt an schwerhörig; sie trägt einen Knopf im Ohr, der ihr das Hören erleichtern soll. Ihre Mutter meldete sie auf einer Waldorfschule in Bremen an; zuvor mußte sie eine Erklärung unterschreiben, daß Kathrin eine Probezeit absolvieren müsse. Nach einem halben Jahr erhielt Kathrins Mutter einen Brief des Lehrerkollegiums. Darin teilte man ihr mit, Kathrin störe, aufgrund ihrer angeborenen Benachteiligung, die Homogenität der Klassengemeinschaft. Kathrin sitzt heute in der ersten Reihe einer „normalen“ Schule – und ist unter den Klassenbesten.

1919 wurde in Stuttgart die erste Waldorfschule gegründet, inzwischen gibt es in ganz Deutschland mehr als 150. Über Zulauf können sie nicht klagen. Doch viele Eltern haben nur wenig Ahnung, auf was sie sich – und ihr Kind – einlassen. In den vergangenen Jahren sind die Stimmen der Kritiker der Waldorfschule lauter geworden. In dem Film von Hariett Kloss „Ich lobe das Wort“ werden die Schattenseiten in der Praxis der Waldorfschulen unter die Lupe genommen.

Viele Waldorfschüler wachsen in einer heilen Welt auf. Sie bleiben die ganze Schulzeit über in einer Klasse, und bis zur achten behalten sie in der Regel auch denselben Klassenlehrer. Klassengrößen mit bis zu 40 Schülern sind die Regel – so viele verschiedene Charaktere wie möglich sollen vertreten sein. Im Unterricht findet eine moralische Ästhetisierung statt: die Kinder werden auf gut und böse, richtig und falsch festgelegt – und in der Pubertät alleine gelassen: es gibt keinen Sexualkundeunterricht. Statt dessen lernen sie deutschtümelnde Märchen und Lieder auswendig. Die Schüler werden in ihrer Waldorfwelt größer – und müssen zusehen, daß die kompatibel bleibt zur Realität.

Sind Waldorfschulen Gesinnungsschulen mit verstaubter Weltanschauung? Nach Ansicht von Heiner Ullrich, Autor des Buches „Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauungen“, pendeln Steiners „Erkenntnisse“ zwischen Tief- und Schwachsinn. Die meisten Lehrer klebten derart an Steiners Thesenbrei, daß die Schulen „verdörflern, doktrinär und unbeweglich bleiben“. Statt die Chance zu nutzen, autonom eine weltoffene Schule zu führen, flüchteten viele Waldorfschulen in eine verquaste Romantik, die durch christlichen Touch kultische Züge aufweise. Thomas Gandow, Sektenbeauftragter der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, rät zur Distanz zu Waldorfschulen.

Walter Hiller, Geschäftsführer des Bundes Freier Waldorfschulen, sieht solche Kritik gelassen, er pickt sich zuweilen sogar Anregungen heraus. Allerdings will der Waldorfbund verhindern, daß der Film von Hariett Kloss in den Landesbildstellen zur Ausleihe zur Verfügung steht. Waldorfschulen müßten bei Eltern Überzeugungsarbeit leisten, meint Hiller. Manchmal seien Eltern schnell begeistert und noch schneller enttäuscht. Hiller nennt so was „Umkippphänomene“.

Auch die Studentin mit Waldorferfahrung bis zur achten Klasse kippte um, als sie auf ein Gymnasium wechselte. Sie berichtet in Kloss' Film: „Ich war erschlagen von der plötzlichen Freiheit. Wir durften in der Schülerzeitung schreiben, worüber wir wollten, wir hatten eine autonome Schülervertretung, und die Lehrer waren keine unnahbaren Götter mehr, sondern Menschen, mit denen man reden konnte.“

* Namen von der Redaktion geändert.