Es gibt nichts, was es bei uns nicht gibt

In der Schweiz liegt das Goetheanum, das Zentrum der Anthroposophie / Die Anthroposophen sind ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor / Skandal um Shoah-Leugner an Steiner-Schule  ■ Aus Dornach Peter Haber

Die Fahrt von Basel nach Dornach dauert mit der Straßenbahn rund eine halbe Stunde. Dornach ist ein Dorf an der Peripherie der Industriestadt Basel. Es sind nicht die sozial Benachteiligten, die in Dornach wohnen: Villen und Einfamilienhäuser, gepflegte Gärten und edle Autos prägen das Dorfbild. Der Weg zum Goetheanum ist gut beschildert, schließlich ist das Goetheanum die einzige Attraktion weit und breit. Das kam so: Rudolf Steiner, Begründer und Übervater der anthroposophischen Bewegung, wollte für seine Mysteriendramen einen eigenen Theaterbau errichten; weil ihm die Behörden in München Schwierigkeiten bereiteten, entschloß er sich, seinen Plan auf dem Dornacher Hügel zu verwirklichen. 1920 wurde die monumentale Holzkonstruktion fertig, fiel in der Silvesternacht 1922/23 jedoch einer Brandstiftung zum Opfer. Steiner fing sofort mit der Planung eines Neubaus an – diesmal allerdings in Beton. Die Fertigstellung des zweiten Goetheanums 1928 erlebte Steiner nicht mehr. Der Begründer der Anthroposophie starb 1925.

Auch heute noch beherbergt das Goetheanum ein Theater. Immer noch bilden die Steinerschen Mysteriendramen, Eurhythmie und Goethes Faust den Kern der Theaterarbeit. Das Goetheanum- Theater ist die größte nicht-staatliche Theatereinrichtung in der Schweiz. Daneben ist das Goetheanum Sitz zahlreicher anthroposophischer Einrichtungen, allen voran der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (AAG).

Die AAG ist das Zentrum der Steinerschen Bewegung und betreibt unter anderem auch die „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“ im Goetheanum. Weltweit hat die AAG rund 50.000 Mitglieder. Rembert Biemond, zuständig für die Pressekontakte des Goetheanums, sieht nicht so aus, wie man sich einen anthroposophischen Funktionär wohl landläufig vorstellt: Mit seinen verwaschenen Jeans, dem modischen Hemd und den ausgelatschten Ledermokassins könnte er ebensogut Programmierer bei einer Versicherung oder Assistent an einem soziologischen Institut sein. Er erzählt von den Tagungen und Kongressen im Goetheanum, den verschiedenen Zweigen der Bewegung.

Die AnthroposophInnen sind in der Schweiz ein wichtiger Faktor – auch wirtschaftlich. Die schweizerische Landesgesellschaft der AnthroposophInnen zählt rund 5.000 Mitglieder, davon lebt ungefähr die Hälfte in der Nordwestschweiz. Allein das Goetheanum bietet etwa 200 Vollzeitstellen. In der ganzen Region, schätzt Biemond, gibt es rund 1.000 Arbeitsplätze in anthroposophischen oder „zugewandten“ Einrichtungen. Über 30 Rudolf Steiner-Schulen (so heißen Waldorf-Schulen in der Schweiz) und zahlreiche anthroposophische Kindergärten gibt es in der Schweiz, viele im Raum Basel.

Biemond ist nicht von gestern. In seinem Büro stehen Computer, Drucker und ein Faxgerät. Einige AnthroposophInnen wollen nun ein Computerforum errichten. Stimmt das Vorurteil der fortschrittsfeindlichen AnthroposophInnen gar nicht? Biemond antwortet mit den drei Kernsätzen des Konservativismus: „Das haben wir schon immer so gemacht, das haben wir noch nie so gemacht und da kann ja jeder kommen – natürlich gibt es diese Mentalität auch bei uns“, sagt er freimütig und fügt hinzu: „Es gibt nichts, was es bei uns nicht gibt.“

Das stimmt. Im Januar 1993 kam die Rudolf Steiner-Schule in Adliswil bei Zürich in die Schlagzeilen. Die Schule hatte ihren Deutsch- und Geschichtslehrer fristlos entlassen. Der Grund: Unter dem Titel „Adler und Rose“ hatte der Lehrer ein Buch veröffentlicht, das die Ereignisse im Dritten Reich in „tendenziöser Art“ schilderte (Neue Zürcher Zeitung). In dieser Publikation konnte man unter anderem lesen, die Massenvernichtung der Juden sei „eine anglo-amerikanisch-zionistische Propagandalüge“. Der Autor war mehrere Jahre an der Rudolf Steiner-Schule tätig gewesen. Die Arbeitsgemeinschaft der Steiner- Schulen hatte sich zwar postwendend von „jeglichen rassistischen und antisemitischen Tendenzen“ distanziert, doch es blieb die Frage, wie ein Shoah-Leugner unentdeckt jahrelang für die Anthroposophen hatte arbeiten können.

1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft von den Nationalsozialisten verboten. Trotzdem stieß die Bewegung bei einigen Nazis auf großes Interesse. Das wird aus der Geschichte der Anthroposophie verständlich. Rudolf Steiner war vor der Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Helena Petrowna Blavatsky (1831-1891), die Begründerin der Theosophie, propagierte eine Rassenlehre, die nicht nur Rudolf Steiner, sondern auch die Nationalsozialisten beeinflußten. Sie entwickelte darin ein hierarchisches System von „Wurzelrassen“. Rudolf Steiner gründete die Anthroposophische Gesellschaft 1913, nachdem er sich mit der Theosophie überworfen hatte. In seinem Buch „Aus der Akasha- Chronik“, das zwischen 1904 und 1908 entstand, griff er aber Ideen aus dieser Rassentheorie auf.

Mit Rudolf Steiner ist es wie mit der ganzen anthroposophischen Bewegung: Es gibt nichts, was es nicht gibt. So lassen sich im monumentalen Werk des Multitalentes widersprüchliche Zitate zusammentragen. Steiner hat in seinem Leben Tausende von Vorträgen gehalten. Die Rudolf Steiner- Nachlaßverwaltung in Dornach bemüht sich, so viele Spuren vom Meister wie möglich zu erhalten. Bereits heute umfaßt die Steinersche Gesamtausgabe mehrere Hundert Bände. Nun sollen sogar die Wandtafelzeichnungen Steiners in Buchform veröffentlicht werden. Geplanter Umfang: 28 Bände.

So wundert es nicht, daß sich heute jeder unter Berufung auf Steiner seine eigene Anthroposophie zusammenzimmern kann. Rembert Biemond bestreitet das auch gar nicht. Er ist überzeugt, daß jede und jeder für sich selber beurteilen muß, wie sie oder er mit dieser Vielfalt umgehen will. Biemond betont, wie wichtig bei Steiner die Individualität jedes einzelnen Menschen sei. „Ich habe mich nie unfrei oder beengt gefühlt mit der Anthroposophie.“