Auf dem Weg zur Neuen Rechten?

Die Auseinandersetzung der Anthroposophen mit ihrer Vergangenheit in der Nazi-Zeit ist zwiespältig / Zwischen linker Öko-Bewegung, New Age und rechter Modernisierung  ■ Eine Gastkolumne von Rainer Alisch

1983, im fünfzigsten Jahr der Machteinsetzung Hitlers, wird von dem Erziehungswissenschaftler Achim Leschinsky auf Basis von Archivmaterial der Vorwurf einer „Affinität“ zwischen Nazismus (NS) und Waldorfpädagogik bestätigt. Anfang der neunziger Jahre folgt eine von Anthroposophen vollzogene Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Das Resultat ist zwiespältig, unter Anthroposophen umstritten, partiell führt es zu Distanzierungen vom „Meister“ Rudolf Steiner. Geht es um das Gesamtbild der anthroposophischen Bewegung in der Nazi- Zeit, überwiegen Versuche, die historischen Tatbestände „wegzuerklären“. Zur Hoffnung, die begonnene Aufarbeitung könne zu einer kritischen Bestandsaufnahme der „Ein-Mann-Wissenschaft“ anregen, besteht kaum Anlaß. Bestätigt wird in Archivmaterialien der immer wieder erhobene, oftmals mit der Vorsilbe „Öko“ versehene „Faschismusverdacht“. Mit Blick auf die bis heute auch personell – beispielsweise in Gestalt von Werner Georg Haverbeck – durchgehaltene „rechte“ Tradition, verwundert dies kaum. So sehr man diesem Bild im einzelnen zustimmen mag, es bleibt pauschalisierend. „Die“ Anthroposophen gab und gibt es nicht. Um in der Vergangenheit zu bleiben: Tatsache ist, die Schriften Rudolf Steiners enthalten eine menschenverachtende Rassenlehre, die zu den Rassismen des historischen Faschismus kompatibel war, und dies auch zu den alten und neuen Rassismen der Gegenwart ist. Innerhalb der Führungsgremien der Bewegung, in den Waldorfschulen, im Landwirtschaftsverband, gab es große Teile, die in den NS drängten. Die anderen, die sich distanzierten oder vor dem Faschismus warnten, blieben in der Minderheit. Vielleicht läßt sich sagen, ohne das Mitmachen-wollen zu schmälern, daß für Anthroposophen als solche in den vorderen Rängen des NS kein Platz war. Man wollte sie nicht, aus Gründen, die in der polyzentrischen Machtstruktur des NS und in der entfesselten, zum Krieg treibenden Dynamik zu suchen sind. Man könnte spekulieren, was wäre gewesen wenn. Barrieren gegen den NS – auch das zeigt das Material – gab es kaum. Dafür spricht nicht zuletzt, daß es gelang – unter Betonung nationaler Zuverlässigkeit –, Elemente der Bewegung konstituierend in den NS einzubringen. So konnten sich die Waldorfschulen noch halten, als vergleichbare Einrichtungen schon längst „gleichgeschaltet“ waren. Die landwirtschaftliche Tradition wurde fortgesetzt und ein Nazi, wie etwa Alfred Baeumler, einer der führenden Nazi-Pädagogen und wissenschaftlicher Leiter im Amt Rosenberg, in dessen Händen damals wichtige Gutachter-Entscheidungen lagen, übernahm Auffassungen Steiners in die eigene Pädagogik. Steiners Rassismus spielte keine Rolle. Er stieß auf Ablehnung, schon weil er die banalsten Einsichten der Biologie leugnet.

Die Haltung der anthroposphischen Bewegung während der NS- Zeit ist nicht untypisch. Der Sog, den die in Hitler personifizierte Komponente des „Dritten Reiches“ ausübte, reichte tief in alle Formationen der bürgerlichen Gesellschaft hinein und befestigte Bündnisse, die Teile der konservativen Eliten erst zum 20. Juli 1944 aufkündigten. Andere ehemals „Begeisterte“ zogen sich weit früher zurück oder wurden hinausgedrängt. Grund genug, nach 1945 mit dem Hinweis „Widerstand“ geleistet zu haben, staatstragend erneut aufzutauchen. Dies trifft auch auf eine Gruppierung zu, für die der inzwischen umstrittene Terminus der „Konservativen Revolution“ als Klammer fungiert. Auch für sie war „Abseitsstehen“ und sich freiwillig dem NS-Staat verfügbar machen charakteristisch – wenn auch aus anderen Gründen. Mit den Anthroposophen teilte sie die Ablehnung „westlich“-kapitalistischer Modernität, den Traum von einem „dritten“ Weg, das Bestehen auf einer besonderen deutschen Rolle, den verklärenden Blick auf die Völker der Ostens – und nicht zuletzt auch die Suche nach einer anderen Rationalität. Die Grundstimmung, an der beide Bewegungen partizipieren, entsteht zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Aus Gegnerschaft zur napoleonischen Besetzung entwickelt sich das Ideal eines deutschen Aufbruchs, in dem die emotionale Einheit des Volkes die bürokratische Lenkung des absolutistischen „Maschinenstaates“ ablösen sollte. Steiners frühe philosophische Reaktion auf die erfahrene Entmythologisierung liegt in dem Versuch, das Denken denkend zu überbieten. Dies führt nicht zu einer Kritik der Aufklärung, sondern zum Versuch, die in der Aufklärung herausgebildete Vernunfttradition in einer Weise zu „unterlaufen“, die sich dennoch als „wissenschaftlich“ verstehen konnte. Hierin überschneidet sich Steiners Denken mit dem erklärten Anspruch zahlreicher NS-Philosophen. Das erklärt, was einen Baeumler unter herrschaftstechnischen Gesichtspunkten an der von Steiner entwickelten pädagogischen Technik interessierte: Eine Aktivierung der Subjekte, die das „Geistige“ der vorgängigen Bereitschaft zu fremdbestimmtem „Handeln“ unterordnet. „Handeln und Anschauen“ gehen dem „Begreifen“ stets voraus, die „Ausbildung des Willens“ erfolgt „nicht über den Kopf“, sondern basiert auf einem „Erleben“, das „zugleich leiblich und seelisch“ ist – eine Konstellation, die dem in der New-Age-Szene verbreiteten Bedürfnis nach „Ganzheitlichkeit“ entspricht. Andererseits kam dieser Impetus einem Irrtum entgegen, den Anthroposophen mit anderen teilten: In der vermeintlichen „Anti-Moderne“ des NS, wie sie sich in Rudolf Hess, Walter Darr, Otto Ohlendorf und Baeumler verkörperte, die eigenen Ideen wiederzuerkennen und zu hoffen, sie würden im nazistischen „Aufbruch“ ihre Umsetzung finden.

Vielleicht läßt sich soweit gehen, die anthroposophische Bewegung als einen der ältesten und somit erfolgreichsten Bestandteile einer im steten Wandel begriffenen konservativ-revolutionären Bewegung zu verstehen, deren mangelnde Auseinandersetzung, nicht nur mit ihrer NS-Vergangenheit, sie anfällig macht, für neu-alte „organologische“ Konzeptionen, wie sie im Gewand einer „selbstbewußten Nation“ in der Gefolgschaft des zur Neuen Rechten gehörenden Historikers Rainer Zitelmann daherkommt.

Rainer Alisch, Jahrgang 1952, beschäftigt sich seit 1985 mit Philosophie im Faschismus. Nach seiner Ausweisung aus der DDR studierte er Philosophie und Theologie in Berlin. Er arbeitet als freier Autor unter anderem für die Zeitschrift „Das Argument“.