"Gewaltige Abgründe der Spiritualität"

■ Thema "Anthroposophie und Nationalsozialismus" wurde von Anthroposophen weitgehend totgeschwiegen / Arfst Wagner, Mitarbeiter der anthroposophischen "Flensburger Hefte", hat sich an die...

taz: Wieso kommt die Aufarbeitung erst jetzt?

Arfst Wagner: Anthroposophische Institutionen sind gelegentlich etwas behäbig, aber es gab durchaus einzelne Menschen, die das in Seminaren gemacht haben. Aber in der anthroposophischen Öffentlichkeit hatte man „Besseres“ zu tun. Eine Auseinandersetzung wäre dringend nötig gewesen. Was hat sie dazu veranlaßt?

Das Thema Anthroposophie und Nationalsozialismus wurde mir 1980 auf einem anthroposophischen Seminar deutlich, auf dem eine ganze Reihe rechtsradikaler Funktionäre geladen waren. Wer ihren Ausführungen etwas entgegenstellen wollte, wurde unterbrochen, so daß die Gegner bald den Saal verließen. Das hat mich sehr beschäftigt. Bei der Suche nach Material fiel mir auf, wie sehr dieses heikle Thema in der Anthroposophie ignoriert worden war. Ich stieß zum Beispiel auf Briefe von Anthroposophen an Nazifunktionäre. Es kamen etwa 20.000 Dokumente zusammen.

Welche Rolle spielten demnach Anthroposophen in der Nazizeit?

Nach dem Erscheinen meiner Aufsätze hat man mir vorgeworfen, daß ich die Menschen von damals aus dem Jetzt heraus verurteile. Man muß da sehr vorsichtig sein mit Urteilen. Ein Teil der Anthroposophen war zu einer Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten bereit, die Waldorfschulen durften bis 1938 fortbestehen, Weleda und verschiedene landwirtschaftliche Betriebe konnten so weiterexistieren. Das waren zwar keine Einzelfälle. Allerdings gab es innerhalb der Waldorfkollegien damals sehr großen Streit wegen der Verhandlungen mit den Nazis. Man wollte aber verhandeln, um die Waldorfschulen in irgendeiner Form weiterzuerhalten.

Antimodernismus und Antirationalismus: darin sehen Kritiker Berührungspunkte von Anthroposophie und Nationalsozialismus, die eine Zusammenarbeit überhaupt möglich machten.

Diese Auffassung teile ich nicht. Es geht der Anthroposophie gerade um die Überwindung des Antirationellen, um eine höhere Rationalität durch ein Denken in Prozessen und nicht ein Denken im Moment. Man benutzt heute das Wort „ganzheitlich“. Das nähert sich dem schon an, nur fehlt das Prozessuale. Die Seelenhaltung vieler Anthroposophen ist allerdings antimodernistisch und antirationalistisch.

Der Rassismus Steiners – die „Wurzelrassenlehre“ von den niederen und höherstehenden Rassen – erinnert an die rassischen Vorstellungen der Nationalsozialisten.

Sicher, ja, das ist eine sehr schwierige Frage. In der „Philosophie der Freiheit“ geht Steiner von dem individuellen Menschen aus, der nicht durch Nation, Volk oder sonstige Zusammenhänge geprägt ist. Die Anthroposophie will Rassen eigentlich überwinden.

Aber in der Schrift „Vom Leben des Menschen und der Erde“ spricht Steiner von dem „triebbestimmten Neger“ und den „geistigen Europäern“, die die zukünftige schaffende Rasse seien. Die Ausrottung der Indianer rechtfertigt er damit.

Aber er heißt sie nicht gut. Ich habe mit diesen Äußerungen Rudolf Steiners durchaus meine Schwierigkeiten. Aber wie auch andere Zeitgenossen war auch Steiner nicht frei von Zeiteinflüssen. Damals herrschte ein anderer Umgang mit gewissen Worten. In der Wortwahl gibt es schon einige problematische Parallelitäten zwischen Steiner und den Nazis. Steiner hat zwar gesagt, wir müssen die Rassenideologie ablegen. Daß er später wieder von Rasse spricht, das ist natürlich ein echtes Problem. Ich glaube, Steiner hat in seinem Leben nie einen farbigen Menschen zu sehen bekommen. Das finde ich sehr wichtig. Insofern nehme ich ihn in seiner Äußerung einfach nicht ernst.

Man kann doch diese Aussagen nicht einfach mit anderen relativieren, die man sich herauspickt.

Nein, das stimmt schon. Man könnte ja mit Adolf Hitler das gleiche machen und sich rauspicken, was einem paßt, und dann hat man in „Mein Kampf“ ein sehr passables Werk vor Augen. So kann man natürlich weder mit Hitler noch mit Marx, noch mit Rudolf Steiner umgehen. Insofern muß ich sagen: ich nehme diese Äußerung von Steiner natürlich sehr ernst, aber ich akzeptiere sie nicht.

Handelt es sich bei den Äußerungen nicht um einen integralen Bestandteil der Lehre?

Nein. Steiner hat diesen Begriff der „Wurzelrassen“ schon vor 1910 verwandelt in einen Begriff „Kulturepochen“ oder „Kulturperioden“. Demnach wird die Kultur nicht durch Rassen getragen, sondern es sind Menschen, die an entscheidenden Punkten in der Weltgeschichte handeln. Diese Entwicklung hängt nicht mehr mit den Rassen zusammen.

Ist das nicht nur ein Rassismus in kulturellem Gewand?

So kann man das sehen. Insofern sind die Kulturperioden sehr vorsichtig zu fassen. Anthroposoph sein heißt ja nicht, alles glauben, was Steiner geschrieben hat. Er hat selbst verlangt, daß man mit seinen Äußerungen kritisch umgeht. Wer das nicht tut, betreibt Mord an der Anthroposophie.

Und doch wird Steiner weitgehend unkritisch rezipiert.

Da haben sie völlig recht. In Medizin und Naturwissenschaft gibt es allerdings schon Weiterentwicklungen.

Jutta Ditfurth hat der Anthroposophie in ihrem Buch „Feuer in die Herzen“ eine wesensimmanente Nähe zum Faschismus vorgeworfen und sie in die Nähe der Ökofaschisten in der Esoterik- Szene gestellt.

In ihrer Auffassung des Reinkarnationsglaubens irrt sie. Denn die Reinkarnation ist keine Determination. Auch wenn die Auffassung weit verbreitet ist, gerade in der New-Age-Bewegung, daß das Leid eines Menschen in der Gegenwart eine Bestrafung sei für Taten in einem früheren Leben. Ich bin Jutta Ditfurth aber dankbar, daß sie der Anthroposophie eine Art Kick gegeben hat, sich endlich der Vergangenheit – und ihren rechten Tendenzen in der Gegenwart – zu stellen. Gewisse Parallelen stimmen ja auch. Ditfurth hat Recht, wenn sie darauf hinweist, daß in der Spiritualität ganz gewaltige Abgründe liegen. Himmler hat auch in der Reinkarnationslehre eine Begründung für den Holocaust gesehen. Die Idee, Hitler als Eingeweihten in spirituellen Kreisen zu sehen, gibt es auch in anthroposophischen Kreisen in weit kultivierter Form. Leider verbreitet sich in der letzen Zeit sogar die Idee der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung in anthroposophischen Zeitungen.

Seit Ihren Veröffentlichungen gelten sie als Nestbeschmutzer.

Von Funktionären habe ich allerdings auch Dankschreiben bekommen. Ich hätte eine Arbeit geleistet, die wir eigentlich schon vor zwanzig Jahren hätten leisten müssen. Zum Teil wurde meine Arbeit einfach ignoriert. Dann gab es noch Briefe beispielsweise aus der Schweiz, aus dem Baseler Umkreis, die mich wüst beschimpften, sogar bedrohten. Eine braune Flutwelle aus bestimmten Kreisen der Anthroposophenschaft.

Ex-Nazis wie Werner Georg Haverbeck vertreten heute in der Anthroposophie rechtes Gedankengut. Kippt die Anthroposophie nach rechts?

Neben Haverbeck gibt es zwar noch einige andere. Auch welche, die in die Nähe der Rassismus- Vorwürfe gerückt werden können. Man kann sie aber nicht als zentral anthroposophisch betrachten. Man muß sie als Phänomen ernst nehmen. Aber die Kontinuität einer nationalsozialistischen Anthroposophie bis heute läßt sich nicht begründen. Es geht vielmehr darum, den Faschismus in uns selbst zu entdecken. Das Gespräch führte Anja Dilk