Lieber nicht genau hinschauen

Tokio erinnert erstmals mit einer Gedenkfeier an die amerikanischen Bombenabwürfe, denen vor 50 Jahren hunderttausend Menschen in der japanischen Hauptstadt zum Opfer fielen  ■ Aus Tokio Georg Blume

Japans Premierminister Tomiichi Murayama übermittelte ein Grußwort, erschien aber nicht persönlich. Die ausländischen Diplomaten schickten nur den Tokioter Vatikanbotschafter, und UN-Generalsekretär Butros Ghali sandte lediglich seinen Pressechef: Dabei handelte es sich um den ersten offiziellen Gedenkakt in Japan im 50. Jahr nach dem Krieg – am Jahrestag der Nacht, welche die Bürger von Tokio als die grausamste des Jahrhunderts erlebten. Doch es schien, als ob alle Beteiligten den historischen Anlaß möglichst unbemerkt und ohne Aufhebens abfeiern wollten.

Über hunderttausend Menschen starben in der Nacht zum 10. März 1945, als amerikanische B 29-Flieger über Tokio einen Bombenteppich legten und die Stadt in Flammen aufgehen ließen. Doch noch im „Friedensaufruf der Bürger Tokios“, den der Vorsitzende des Tokioter Stadtparlaments gestern vorlegte, werden die unvorstellbaren Greuel dieses 10. März allenfalls beiläufig erwähnt: „Wir werden unseren Kindern von den Schrecken des Krieges erzählen und wie wichtig es ist, ihn zu verhindern, und dabei die Erinnerungen an den Bombenteppich von Tokio bewahren.“ Im weiteren behandelt der zweiseitige Appell die allgemeinen Kriegsgefahren.

Vielleicht war es symbolisch, daß ausgerechnet der 85jährige Bürgermeister von Tokio, Shunichi Suzuki, in der letzten großen Amtshandlung seiner auslaufenden Regentschaft die Gedenkzeremonien leitete. Suzuki hatte es in seinen zwölf Jahren als oberster Stadtherr stets geschafft, alle Parteien seines Parlaments, mit Ausnahme der Kommunisten, hinter sich zu sammeln. Er verkörperte damit Japans besondere politische Spezies der Konsensfixer, der es gelingt, ohne jedes politische Programm die stärksten Machtpositionen zu erobern, nur weil sie beim Fädenziehen zwischen Parteien, Ämtern und Lobbys die Herrschaftspraxis am besten beherrscht. Sicher beherrschte Suzuki am Freitag die politische Kunst der japanischen Gedenkzeremonie: Noch über die größten Schrecken sprach der hellwache Greis, ohne eine Mine zu verziehen, mit sturer Tonlosigkeit. Keine Geste, kein Wort verriet seine Teilnahme — dabei sprach Suzuki zu einer Großzahl von Angehörigen der Opfer des 10. März. Seit 50 Jahren rettet sich die japanische Politik auf diese Art und Weise vor der Vergangenheitsbewältigung.

Tatsächlich ging es gestern um das vielleicht größte japanische Geschichtstabu: Offiziell durften sich die Japaner bisher nur als Opfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki beklagen — in diesen Fällen waren sie schließlich nicht nur dem Krieg, sondern einem neuen Menschheitsschicksal erlegen. Der Bombenteppich von Tokio aber wurde in Japan verschwiegen – von rechts und von links. Von rechts, weil man nach dem Krieg bald mit den USA gemeinsam regierte, und neben den Wunden von Hiroshima und Nagasaki nicht noch eine weitere Geschichtsfront eröffnen wollte. Von links, weil man die eigentlichen Tabus in den japanischen Kriegsverbrechen in Nanking oder auf den Philippinen erkannte. Ähnlich wurde in der Bundesrepublik über Dresden geschwiegen, bis die Journalistin Ulrike Meinhof das Thema Anfang der sechziger Jahre aufgriff.

Der Gedenkakt am 10. März unterstrich nun, daß die Nation, die den Zweiten Weltkrieg im Pazifik auslöste, auch im Jahr 1995 der eigenen Vergangenheit keineswegs genauer ins Auge sehen will. Allgemeine Friedensbotschaften, Abrüstungsaufrufe und internationale Verständigungsversprechen – sie werden in diesem Jahr wohl noch zu Tausenden in Japan gedruckt und verschickt werden.

Aber Ernsthafteres und Ehrlicheres erlaubt die Politik derzeit nicht: Liberaldemokraten, in deren Reihen eine lautstarke Minderheit den Krieg bis heute verherrlicht, und Sozialdemokraten, die stets das Eingeständnis von Kriegsverbrechen und Aggressionskrieg forderten, regieren derzeit eben gemeinsam – so wie im Tokioter Stadtparlament.

Daß viele Japaner längst schärfer mit ihrer Vergangenheit ins Gericht gehen, daß sich inzwischen selbst Angehörige der damaligen Opfer zu kritischem Nachdenken anregen lassen, bewies die Schriftstellerin Hisae Sawachi, prominente Vertreterin der japanischen Nachkriegsliteratur, als sie gestern das Bekenntnis ihrer Generation zur Kriegsverantwortung einforderte und – statt von den japanischen Opfern – von den amerikanischen Soldaten auf der von Japan versenkten „Midway“ sprach.