Vorm Ethno-Auge alle gleich

Die Ausstellung „Krank – warum?“ im Dresdner Hygiene-Museum beschränkt sich darauf, unterschiedliche Krankheitsvorstellungen zu dokumentieren  ■ Von Rebekka Habermas

Der 1861 geborene Karl August Lingner, Fabrikant des allseits bekannten Mundwassers Odol, war ein Mann des medizinisch-hygienischen Fortschritts. Begeistert von den schnellen Erfolgen der Medizin, die immer neue Bakterienkulturen aufspürte und mit immer differenzierteren Mitteln aus Hausstaub, Bettritzen, schlechter Luft und dunklen Kellern vertrieb, beschloß er 1911, diese Fortschritte in einer „Ersten Internationalen Hygiene Ausstellung“ einem breiten Publikum vorzustellen.

Daß er mit dieser Ausstellung die Museumspraxis des 19. Jahrhunderts revolutionierte, indem er eine populärwissenschaftliche Darstellungsweise entwickelte, sei nur am Rande vermerkt. Auch in seinem Engagement für die mit großer Energie verfolgte Idee, in Dresden sein Hygiene-Museum zu gründen – eine Idee, die schließlich erst 1930 realisiert wurde – war Lingner von wahrem Missionseifer beseelt. Euphorisch propagierte er ein Krankheitskonzept, das Krankheiten allein auf spezifische Erreger zurückführt und soziale und kulturelle Faktoren gänzlich außer acht läßt. Kurz: Er war wie die meisten seiner Zeitgenossen ein Verfechter der sogenannten europäischen Schulmedizin.

Von Wassertreten bis Wünschelruten

Heute freilich werden diese Schulmedizin und ihre Krankheitsvorstellungen mit wachsender Skepsis beurteilt. Immer mehr PatientInnen orientieren sich bereits an anderen Konzepten, suchen bei einer kaum noch zu überblickenden Heerschar von HeilerInnen um Hilfe nach. Von Ganzkörpermassage bis Akupunktur, von Wassertreten bis Wünschelruten und „Hildegardmedizin“ wird aus unendlich vielen Kulturen und Epochen alles nur erdenkliche angeboten.

Wenn also 1995 in dem von Karl August Lingner ins Leben gerufenen Dresdner Hygiene-Museum eine Ausstellung unter dem Titel „Krank – warum?“ eröffnet wird, kann es folgerichtigerweise nicht um eine Wiederauflage von Lingners mittlerweile veraltetem Credo gehen. So überrascht es auch nicht, daß nun die Vielzahl der je nach Kultur verschiedenen Krankheitsvorstellungen im Vordergrund steht, während die volksbildenden Handlungsanweisungen der vermeintlich allein glückseligmachenden Schulmedizin fehlen. Überraschend jedoch ist, daß sich die Ausstellung darauf beschränkt, die bloße Existenz anderer Krankheitsvorstellungen zu dokumentieren, ohne sich der Mühe zu unterziehen, diese näher zu beleuchten, geschweige denn zu erklären.

Unterteilt nach Krankheitsursachen – erstens die vorgeburtlichen, zweitens die im Laufe des Lebens erworbenen und drittens die aus dem Inneren wirkenden Krankheitsursachen – finden sich äthiopische Zauberrollen aus dem ausgehenden 20. Jahrhundert, Ausschnitte aus einem indonesischen Heldenepos des 18. Jahrhunderts, Nigerianische Holzfiguren aus dem Beginn dieses Jahrhunderts, sogenannte Berner Hellebarden aus dem 15. Jahrhundert, das Holzmodell eines südindischen Klosters, japanische Ema-Tafeln und magische Figuren aus Grönland neben einer Fraiskette aus dem Österreich des 18. Jahrhunderts und einem „Horus-Auge“ aus dem vorchristlichen Ägypten. Mikroskope, Teppiche, Masken, Bilder, Inszenierungen, Fotos, Plastiken, Plakate, Kultgegenstände und Gerätschaften aus Belgien, Obervolta, Dänemark, Elfenbeinküste, England, Thailand, Frankreich, Peru, Grönland, Papua-Neuguinea, den Philippinen und etlichen anderen Regionen hängen, stehen und liegen nebeneinander. Die Moral von der Geschichte, die der Ausstellungsmacher Frank Beat Keller immer wieder unterstreicht, lautet nämlich: Gleich welcher Hautfarbe, welcher Epoche oder Kultur die Krankheitsvorstellungen (auf die die Objekte verweisen) entstammen – hier im Dresdner Hygiene-Museum sind sie alle gleich.

Diese spätestens durch die Ethno-Szene der 80er Jahre akzentuierte Einsicht – auch als direkter Angriff auf die euphorische Propagierung der europäischen Schulmedizin von Lingner und Konsorten zu verstehen – ist freilich gar nicht so leicht in ein Ausstellungskonzept umzusetzen. Diese Ausstellung ist daran gescheitert. Schlimmer noch: Das programmatische Nebeneinander zeitlich oder räumlich naher und ferner Kulturen fördert einerseits die Lust am Exotischen, die bekanntlich auch nur eine Spielart des Eurozentrismus ist, andererseits bringt sie kulturelle Differenzen zum Verschwinden. Dadurch, daß das hornförmige Amulett aus Süditalien neben dem deutschen Mikroskop steht, bleibt das erstere fremd und exotisch, und letzteres wird nicht minder bekannt. Kurz: Statt die Differenzen, die Vielfalt der inner- und außereuropäischen Medizinkonzepte zu verdeutlichen, scheinen sich diese, je länger man durch die Ausstellung geht, desto ähnlicher zu werden.

Die Logik des bösen Blicks

Erst der Katalog, der alle Exponate ausführlich beschreibt und zu jedem der in der Ausstellung nur angedeuteten Themen meist sehr sachkundige Beiträge enthält, bringt ans Tageslicht, was in der Ausstellung dunkel bleibt: Fremde Kulturen haben Krankheitsvorstellungen, die – gleichwohl uns fremd – keineswegs „exotisch“ sind, sondern in sich logisch und praktikabel. Diese Logiken entdecken zu wollen, setzt freilich voraus, daß man nicht nur Lingner und Konsorten brandmarken, sondern andere Kulturen auch verstehen will.

So wird beispielsweise minutiös rekonstruiert, daß der böse Blick, der mit dem hornförmigen Anhänger abgewendet werden soll, nach wie vor weit verbreitet ist. Die Mutter einer Tochter, die ihr libanesisches Heimatdorf für eine vielversprechende Karriere verlassen hatte und nun unter großen Rückenschmerzen litt, erklärt dieser, daß die ganze Nachbarschaft voller Neid und Mißgunst sei, die Schmerzen der Tochter also durch den bösen Blick verursacht worden seien (vom bösen Blick werden nämlich vor allem die heimgesucht, die weniger krank, arm oder hilfsbedürftig als ihre NachbarInnen sind). So ist der böse Blick Indikator für soziale Ungleichheit und gleichsam Mittel, das Opfer zu Neidvermeidungsstrategien zu erziehen. Überdies ist der böse Blick „Machtmittel der Benachteiligten“.

Vielleicht wäre es für die Umsetzung des sich kritisch verstehenden Ausstellungskonzeptes hilfreicher gewesen, statt der Gleichwertigkeit aller Kulturen ihre Unterschiedlichkeiten zu betonen. Wie spannend ein solches Unternehmen hätte sein können, verdeutlicht der Katalog, der die Unterschiede in den Krankheitsvorstellungen (auch zwischen den europäischen Regionen) in über 50 Artikeln beleuchtet: Einmal werden die Ursachen für Krankheiten in der Störung des sozialen Gleichgewichtes gesehen, dann wird ein Gebrechen als göttliche Rache interpretiert, ein anderes Mal verweist eine Krankheit auf innerfamiliäre Konflikte, dann wieder wird Krankheit als bloße Frage der Bakterien verstanden, und schließlich kann auch die Bedrohung kultureller Identitäten eine Krankheitsursache sein.

Ein letztes Beispiel für einen Zusammenhang, der in der Ausstellung unklar bleibt und im Katalog deutlich wird: ein Exorzismus, an einem marokkanischen Jungen vorgenommen, der wie von Sinnen schien, wird mit dem Verweis auf einen bestimmten Geist erklärt. Nachdem der Geist vertrieben werden konnte, soll der Junge nun alljährlich eine Pilgerfahrt just zu dem Ort machen, zu dem kurz vorher seine Mutter mit dem Bruder gepilgert war. Damit kann – so sehen es auch die Bewohner des Heimatortes – das nach und nach deutlich zutage tretende Eifersuchtsproblem des Jungen gelöst werden, ohne daß einer der Beteiligten unter moralischen Bewertungen zu leiden hat. Nun hat nicht nur sein Bruder, sondern auch er die Möglichkeit, zusammen mit der Mutter auf Wallfahrt zu gehen.

So sehr sich diese Ausstellung aus nur allzu verständlichen Gründen gegen die Obsessionen eines Karl August Lingner und seiner Propagierung der Schulmedizin wendet – von ihm hätten die Ausstellungsmacher lernen können, daß der programmatische Verzicht auf die Darstellung komplizierter Zusammenhänge allein noch kein Konzept ist.

„Krank – warum? Vorstellungen der Völker, Heiler, Mediziner“. Im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden, vom 10. März bis zum 16. Juli 1995.

Katalog: Frank Beat Keller (Hrsg.), Ostfildern-Ruit 1995, 336 Seiten, 42 DM (solange die Ausstellung läuft).