Die maximale Fremderfahrung des Ich

Warum sind tibetanische Mönchsgesänge interessanter als alpenländisches Jodeln? Im Berliner Künstlerhaus Bethanien fand unter dem Leitbegriff „TheaterFremdeKunst“ ein Symposium über Fremdheit und Interkulturalität statt.  ■ Von Petra Kohse

„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Und am schönsten ist es noch immer daheim“, war im Reiseteil dieser Zeitung am letzten Samstag zu lesen. Herr Abdulkhaligue aus Oman wird mit diesen Sätzen zitiert, ein Aussteller auf der Internationalen Tourismus- Börse. In jedem Annoncenteil hingegen finden sich Angebote wie Computerkurse auf Gomera, Trommeln in Ghana oder auf Rügen, Groteskes Theater in Ligurien – das Bedürfnis nach Erfahrungszuwachs in der in- und ausländischen Fremde ist immens bei denen, die das Wort „daheim“ nicht ohne Ironie aussprechen mögen.

Die Reise als Weg zum Ich ist ein altbekannter Topos der Literatur, und Konsens dürfte auch sein, daß die maximale Fremderfahrung eine Entdeckung des Bekannten in exotischer Verzerrung sein kann. Das wirklich Andere entzieht sich der Wahrnehmung. So mag es denn die Lust an der eigenen intellektuellen Leistung sein, etwas Unbekanntes als bekannt zu dechiffrieren. Interkulturalität wäre so gesehen nichts weiter als geistige Selbstbefriedigung auf der Basis engagierter Projektion.

Am vergangenen Wochenende fand im Berliner Künstlerhaus Bethanien ein internationales Symposium über Fremdheit statt, auf dem Regina Mundel im Rahmen ihres philosophisch orientierten Vortrags einen Ausschnitt aus einer Fernsehaufzeichnung zeigte: Karl Moik präsentiert im „Musikantenstadl“ einen Gast aus Australien. Ein Aborigine tritt auf. Er trägt seinen „Sonntagsanzug“, das heißt, er hat den nackten Körper mit weißen Ornamenten bemalt und zeigt einen Tanz, den Moik wisserisch als „Moskitotanz“ ankündigt.

15 Millionen FernsehzuschauerInnen mag die Sendung seinerzeit amüsiert haben, speziell die deutschen Symposiums-TeilnehmerInnen zeigten sich eher erschüttert. Das vorherrschend gebrochene Verhältnis zur deutschen Folklore einerseits, die Reduzierung und Funktionalisierung des Fremden sowie dessen offenbares Einverständnis andererseits brachten eine Mischung aus Abscheu und Verlegenheit im Plenum hervor.

Rassismus beginne erst, schreibt Jean Baudrillard, wenn der andere gefährlich nahekomme. War es ein rassistischer Akt Moiks, den Aborigines-Tanz aufgrund von Gesten, die er als Versuche der Mückenvertreibung interpretierte, auf den Begriff „Moskitotanz“ zu bringen? Ist es rassistisch, etwa indianische Schamanen-Rituale als Problembewältigung mitteleuropäischer Paarbeziehungen benutzen zu wollen? In jedem Versuch des Verständnisses liegt das Moment der Aneignung und Reduktion.

„TheaterFremdeKunst“ hieß das Symposium, zu dem Barbara Mundel und Renate Wolf, zwei Dramaturginnnen und Regisseurinnen, etwa zwei Dutzend Literatur- und TheaterwissenschaftlerInnen, Ethno- und SoziologInnen aus aller Welt eingeladen hatten. An drei Tagen folgte Vortrag auf Vortrag auf Diskussion. Das Fremde betreffend könnte das Theater tatsächlich eine Vorreiterrolle unter den künstlerischen Disziplinen einnehmen, sind die konstituierenden Prinzipien einer Theaterinszenierung doch Adaption und Interpretation. Schroff gesagt: Regisseurin A „beutet“ den Text des Dramatikers B aus, damit eine Inszenierung C entstehen kann. Daß die Kommunikation zweier kultureller Codes entsprechend produktiv werden kann, sieht der Theaterwissenschaftler Patrice Pavis aus Paris jedoch auch als realistisches Ziel interkultureller Theaterarbeit. Keine Übernahme etwa fernöstlicher Theaterelemente, wie sie sich in der Arbeit von Peter Brook oder Ariane Mnouchkine beobachten läßt, sondern die Entwicklung einer neuen Sprache, deren Codes von denen der jeweiligen Kultur gleich weit entfernt ist und doch von beiden verstanden werden kann.

Das Fremde in uns, das Fremde im anderen, die fremde Kultur, alles ist fremd, und nichts ist fremd. Jede Aussage über Fremdheit ist in ihrer Pauschalität banal, jeder konkrete Fall jedoch diskussionswürdig. Als etwa der Konstanzer Soziologe Thomas Lau über Pop sprach, ging es in der Debatte um die Gleichzeitigkeit von Fremdheitsabbau und -aufbau durch die Globalisierung von Jugendkultur einerseits und deren subkulturelle Hermetik andererseits.

Sind sogenannte Rechtsradikale die neuen Exoten Mitteleuropas, und welche Rolle spielen die Medien? Lassen sich digitale Medien in dekonstruktiver Absicht nutzen, ohne daß das Medium dadurch gleichzeitig gefeiert wird? Wie sind Berichte außereuropäischer Reisender über Europa zu lesen? Etliche Fragen tauchten auf, verschränkten sich und verflüchtigten sich wieder. Jede einzelne von ihnen ist wichtig und machte zugleich die eigene kulturelle Saturiertheit bewußt, als ein Vortrag des Lyrikers Rajko Djuric begann, der zugleich Präsident der Roma und Sinti ist.

Denn unter den Anwesenden, die vielleicht gerade überlegten, warum etlichen deutschsprachigen Menschen tibetanische Mönchsgesänge interessanter erscheinen als alpenländisches Jodeln, gab es sicher einige, die spontan nicht gewußt hätten, daß „Sinti“ die Eigenbezeichnung der deutschen Roma ist und daß die Wurzeln des Volkes in Indien liegen. Djuric sprach über die Geschichte der Roma und Sinti, die eine Geschichte der fortgesetzten Vernichtung ohne „Wiedergutmachung“ ist, und über ihre Gegenwart, die eine der fortgesetzten Ausgrenzung ist. Es gibt 15 Millionen Roma und Sinti, 12 Millionen davon leben in Europa, wo sie nur in Makedonien, Österreich und Slowenien als nationale Minderheit anerkannt werden. Es gibt keine standardisierte Schrift des Romanés und keine Schulen. Fremdheit nicht als Selbst-, sondern als Lebenserfahrung.

Man weiß nicht, was Herr Abdulkhaligue aus Oman gesagt hätte, wäre er gebeten worden, auf diesem Symposium über das Fremde zu sprechen. Aber vermutlich hätte sich ein Beitrag von ihm nahtlos ins Programm eingepaßt. Das spricht unbedingt für diese interdisziplinäre Veranstaltung, deren Leistung es war, die Grenzenlosigkeit der Fragen zum Thema Fremdheit vorzuführen.