Dem Maultier Zügel verpassen

■ In Eritrea ist die Bevölkerung aufgerufen, an der neuen Verfassung mitzuarbeiten

Asmara (taz) – Der Weg ist so wichtig wie das Ziel, meint Bereket Habte Selassie. Der Jurist ist Vorsitzender der Kommission, die derzeit eine Verfassung für Eritrea ausarbeitet. Die Schaffung der politischen Grundlagen des jüngsten afrikanischen Staates sei lang, umständlich – und lohnend: „Wir wollen das Volk, das theoretisch die Macht im Staat hat, ganz praktisch an unserer Arbeit beteiligen.“

Das Volk hatte sich vor anderthalb Jahren in einem Referendum mit der überwältigenden Mehrheit von 99,8 Prozent für die Unabhängigkeit der ehemaligen äthiopischen Nordprovinz ausgesprochen. Schon während des 30jährigen Bürgerkrieges haben die heute rund 3,5 Millionen „Machthaber im Staate“ eindeutig Partei ergriffen: Gegen die äthiopische Besatzungsmacht und für die Guerillakämpfer. Darunter stellte die „Befreiungsfront des eritreischen Volkes“ (EPLF) mit zuletzt etwa 100.000 Kämpferinnen und Kämpfern die mit Abstand größte Truppe. Nach dem Sieg über den äthiopischen Diktator Mengistu hatte die „Befreiungsfront“ 1991 die Verantwortung in der Hauptstadt Asmara übernommen.

Diese – einzige legale – Partei, die sich seit einem Jahr „Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit“ (PFDJ) nennt, scheint noch immer von der Solidarität der Eritreer getragen. Doch wie kann Basisdemokratie in einem kriegszerstörten Land funktionieren, das zu den ärmsten der Erde gehört? 80 Prozent der Eritreer leben als Nomaden, seßhafte Viehzüchter oder Bauern auf dem Land. Die wenigsten können lesen und schreiben. Die Dörfer sind oft schwer zugänglich: Panzer und Bomben haben die Straßen zerstört. Vor neun Monaten hat die Übergangsregierung eine Verfassungskommission bestimmt, deren fünfzig Mitglieder einen Querschnitt durch die eritreische Bevölkerung bilden sollen. In dem bisher 42köpfigen Gremium sitzen zwanzig Frauen. Vier Unterausschüsse sollen über soziale und kulturelle Fragen, Menschenrechte, die Wirtschaftsverfassung und den Umweltschutz debattieren.

Das wichtigste Komitee sei jedoch jenes für „staatsbürgerliche Erziehung“, meint Bereket. In der Hauptstadt Asmara tragen Autos Aufkleber dieses Komitees mit der Forderung „Eine Verfassung durch die Mitwirkung des Volkes“ durch die Straßen. Bunte Plakate mit biblisch wirkenden Steintafeln, Fahne, Volk und Schwert verkünden die Einladung zur Mitarbeit am Grundgesetz auch noch in den einfachen Teestuben der abgelegenen Dörfer. Dadurch sollen die Bäuerinnen und Bauern in Seminare und Dorfversammlungen gelockt werden. In der staatlichen Zeitung Eritrea Profile sind mehrere Artikel erschienen, in denen für die „Mitarbeit“ an der Verfassung geworben wird.

Zehn Monate nach Beginn der Arbeit steckt das Gremium „noch am Anfang“, wie Bereket einräumen muß – etwa 20 Seminare haben bisher stattgefunden. Zur Debatte standen dabei 23 Kernfragen, die Mitglieder der Kommission aus verschiedenen Grundgesetzen der Welt herausgearbeitet haben. Präsidiale oder parlamentarische Demokratie? Bundesstaat oder Einheitsstaat? „Wir haben dem Publikum die wichtigsten Bausteine einer Verfassung genannt und sie Punkt für Punkt diskutiert.“

Die Bäuerinnen und Bauern übersetzten ihre Vorstellungen von dem trockenen juristischen Stoff in Bilder: „Natürlich muß man die Regierung kontrollieren – es würde ja auch niemand ein Maultier ohne Zügel reiten“, stellte einer von ihnen fest. Bereket ist von solchen Vergleichen begeistert. Die Kandare, die der Bauer gefordert hat, wird wohl das Mehrparteiensystem sein: „Alle in der Kommission sind dafür.“

Umstritten sei dagegen, wie weit die Unabhängigkeit der Regionen gehen soll und welche Rolle die Zentralregierung bei der Umverteilung der regionalen Reichtümer spielen wird. Bereket zufolge könnte das eritreische Modell zwischen Bundes- und Einheitsstaat liegen: „Die Entwicklungschancen sind sehr viel größer, wenn die Regionen selbst aktiv werden können. Das zeigt auch das deutsche Beispiel.“ Bislang ist Eritrea in zehn Verwaltungseinheiten aufgeteilt, die nicht mit dem Lebensraum der neun eritreischen Volksgruppen zusammenfallen. Bereket hält es für „unvorstellbar“, daß der Staat nach ethnischen Gesichtspunkten neu aufgeteilt wird: „Man sollte diese Unterschiede nicht allzusehr betonen. Und bei uns ist das Nationalgefühl durch den langen Befreiungskampf fest verwurzelt.“

Sicher sei jedoch, daß die Verfassung den Nationalitäten das Recht auf ihre Sprache und Kultur garantieren werde. Schon heute lernen die Kinder bis zur sechsten Klasse in ihrer Muttersprache, danach stehen Tigrinia, Arabisch oder Englisch zur Wahl.

Die Verfassungskommission des äthiopischen Nachbarlandes hatte ihren Entwurf Mitte Dezember vorgelegt; er wurde abgesegnet. Für das kleine Eritrea sei aber ein so weit gehender Föderalismus, wie in der äthiopischen Verfassung vorgesehen, nicht angebracht, findet Bereket. Zwei Jahre hat die Kommission Zeit, dann muß sie ihren Entwurf dem Übergangsparlament vorlegen. Wenn das zustimmt, wählt das Volk im März 1996 eine Verfassunggebende Versammlung, die den Entwurf in die endgültige Form bringt. Dann sollen auch Parteien- und Wahlgesetz vorliegen und das Volk ein Parlament wählen. Bettina Rühl