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Der Konflikt rückt von der Peripherie ins Zentrum

■ Die Alewiten, denen die Istanbuler Anschläge galten, stellen in der Türkei eine religiöse Minderheit von zwanzig Prozent. Sie sind traditionell laizistisch orientiert.

Wer in der Türkei Mord und Totschlag provozieren will, kann sich an zwei gesellschaftliche Konfrontationslinien halten, deren Überschreitung regelmäßig zu größeren Auseinandersetzungen führt. Das ist einmal der ethnische Konflikt zwischen Kurden und Türken und zum zweiten der religiöse zwischen Sunniten und Alawiten.

Alawiten sind eine Abspaltung der schiitischen Muslime, von denen sie sich allerdings fundamental unterscheiden. Wie die Schiiten verehren sie Ali, den Schwiegersohn des Propheten Muhammed. Im Gegensatz zu den Sunniten halten alle Schiiten daran fest, daß die Nachfolge Muhammeds aus dessen Familie kommen muß. Darüber hinaus verbindet die Alawiten in der Türkei mit den im Iran herrschenden schiitischen Klerikern allerdings nichts.

Der Gebots- und Verbotskanon des Schiismus wird von den Alawiten nicht anerkannt. Der Alltag ist nicht reglementiert, Alawiten fasten nicht, kennen kein Alkoholverbot, und statt einer Moschee besuchen sie, wenn überhaupt, ein Versammlungshaus, also ein Gemeindezentrum.

In der Türkei bilden die Alawiten gegenüber den Sunniten eine Minderheit von höchstens 20 Prozent der Muslime. Bis in die jüngste Zeit hielten Alawiten sich in ihrem Glaubensbekenntnis öffentlich zurück, achteten im Gegenteil eher darauf, nicht als Alawiten erkannt zu werden. Ihre religiösen Schriften sind nicht öffentlich zugänglich, ihre Religion gilt als geheim.

Als ausgegrenzte Minderheit haben die Alawiten die laizistischen Reformen Atatürks von Beginn an unterstützt. Bis heute gelten die Alawiten als strikte Anhänger des Laizismus und sind schon deshalb den sunnitischen Fundamentalisten, den Anhängern der Scharia, ein Dorn im Auge.

Dazu kommt, daß die Alawiten, unter anderem auch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung, aber auch der eher kommunitären Gemeindeform, traditionell der Linken nahestehen. Außerdem gibt es Alawiten sowohl unter den Kurden als auch den Türken, so daß die ethnische Herkunft die Konflikte noch zusätzlich verschärfen kann.

Das war beispielsweise der Fall, als Provokateure aus den Reihen der türkischen Faschisten 1978 durch gezielte Übergriffe und Provokationen in der südostanatolischen Stadt Karamanmarash ein Pogrom gegen Alawiten auslösten. Die damalige türkische Regierung unter Ecevit verhängte in der überwiegend kurdisch bewohnten Provinz daraufhin den Ausnahmezustand, der bis heute in Kraft ist und letztlich der Einstieg in den kurdischen Bürgerkrieg war.

Nach demselben Muster kam es ebenfalls noch Ende der siebziger Jahre zu Ausschreitungen gegen Alawiten in Corum, einer Stadt in der Nähe von Sivas, wo 1993 islamische Fundamentalisten eine von Alawiten organisierte große Kulturveranstaltung angriffen und 37 Menschen, darunter bekannte Intellektuelle, töteten.

Seit dem Angriff auf das Hotel in Sivas, bei dem der 78jährige Asis Nezin nur duch einen glücklichen Zufall mit dem Leben davonkam, ist die alawitische Gemeinde in der Türkei alarmiert. Fast acht Stunden lang hatten Polizei und Militär dem aufgeheizten Mob tatenlos zugesehen – bis das Hotel in Flammen aufging, griffen die Sicherheitskräfte einfach nicht ein. Auch der Prozeß gegen die Brandstifter im Dezember letzten Jahres ging mit für türkische Verhältnisse erstaunlich milden Urteilen zu Ende. Fast die gesamte Politprominenz des Landes hatte zuvor Verständnis für die „religösen Gefühle“ der Menge bekundet – sie sei durch atheistische Äußerungen während der Veranstaltung provoziert worden.

Auch die Attentate von Sonntag abend tragen alle Merkmale einer gezielten Provokation – der Unterschied zu früheren Pogromen ist der Ort. Der Angriff gegen die Minderheit findet nicht mehr an der Peripherie, sondern im Zentrum statt. Jürgen Gottschlich

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