Reigen um Tod und Liebe

■ Tony Kushners „Angels in Amerika – Perestroika (Teil 2)“

Die entscheidenden Fragen stellt der „älteste noch lebende Bolschewik“ gleich zu Beginn: Können wir uns verändern? Sind wir verdammt? Wie sollen wir ohne Theorie vorgehen? Im zweiten Teil seines Stückes spielt Tony Kushner mögliche Varianten durch; Antworten will er nicht geben. Wider Erwarten haben die Paare und Passanten aus dem ersten Teil des Stücks alle überlebt und setzen ihre verstrickten Beziehungen fort. Die Engel haben sich vermehrt und nehmen sich, als rot- schwarze Flügelwesen vom Himmel schwebend, der philosophischen Dimension an: Gott ist fort, und seine Schöpfung ist so aus dem Ruder gelaufen, daß ihr Ende abzusehen ist.

Christina Friedrichs Inszenierung setzt, wie schon im ersten Teil des amerikanischen Erfolgsstücks, darauf, die Bühnenfiguren so sehr mit Leben aufzuladen, daß sie immer kurz vor der Explosion zu stehen scheinen. Louis und Joe, der linke Feigling und der republikanisch-mormonische Anwalt, die sich im ersten Teil trafen, lieben einander bis aufs Blut und scheitern an politischer Korrektheit. Heiko Senst und Uwe Kramer setzen ihre Körper als letzte Grenze zwischen den Menschen ein. Die breite, schräge Mauer, die den Bühnenraum durchbrochen umschließt, bietet ihnen Raum für Balance, Absturz oder Versteck; hier verschlingt sich ihre Geschichte mit der von Joes verlassener Frau Harper und Louis' aidskrankem Freund Prior Walter. Sein schwarz-roter Engel plagt ihn mit Visionen, brennenden Büchern und Orgasmen, und schließlich segnet Prior das Publikum. „Mehr Leben“ steht am Ende seines Weges durch Brooklyn und den Himmel, und die Erkenntnis, daß er mit seiner Liebe Louis nicht mehr zusammenleben will. In „Perestroika“ ist Prior nicht mehr der Schmerzensmann, sondern komisch und irdisch, und meist sieht er aus wie Hape Kerkeling. Die kleinen Erkenntnisse, die changierenden Nuancen treiben die Handlung voran um den Preis, daß der große Abgesang auf Reagans verlorene Kinder im Amerika der achtziger Jahre nicht mehr die Tragfähigkeit entfaltet wie noch im ersten Teil des Stücks. Zwar stirbt der skrupellose Anwalt Roy Cohn, doch seine Medikamente werden Priors Leben verlängern, und er bittet sein Justizopfer Ethel Rosenberg um Verzeihung, wenn auch nur, um sie ein jüdisches Kinderlied singen zu hören.

Die Politik der McCarthy-Ära hat ihre Macht verloren: Kaddisch für Roy Cohn, dessen zynischer Witz Funken sprühen ließ. Amerika bestehe aus großen Ideen und sterbenden Menschen, stellt Joes Frau Harper zu Beginn fest, und ihr Weg durch die Endlosschleifen von Kushners Stück demonstriert am deutlichsten, daß diese Erkenntnis falsch ist. Hellsichtig und verzweifelt geistert Harper (Irene Kleinschmidt) durch ein historisches Mormonen-Diorama und die Träume ihres schwulen Ehemanns. Sie folgt Prior bis in den Nebel-Himmel und endet mit Joes Kreditkarte und der Hoffnung, von der Liebe auf Reisen mitgenommen zu werden, von denen sie nie zu träumen wagte.

Nicht zuletzt mittels der klug gesetzten Musikakzente und traurigen Songs bindet die Inszenierung alle im Reigen um Tod und Liebe zusammen und behauptet sich glänzend im Kampf gegen die Ermüdung, die sich im philosophischen Gekaspere der Engel einstellt. Durch die Ironisierung großer Untergangsszenarien und hilfloser Engel schafft Christina Friedrich Raum für Menschen-Geschichten und verhindert, daß Kushners schwächerer zweiter Teil der „Engel in Amerika“ zum bloßen papiernen Nachspiel auf dem Theater wird. Große Fragen und zu Recht keine Antworten, aber viel Spielraum für ein wunderbares Ensemble. Lore Kleinert

Tony Kushner: „Engel in Amerika – Perestroika (Teil 2)“. Regie: Christina Friedrich, Bühne und Kostüme: Angelika Winter. Bremer Schauspielhaus. Weitere Vorstellungen: 15., 18., 22., 29., 30.3.