"Radikale Kritik wird einfach unterdrückt"

■ Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk über den Zerfall der Türkei, Türken in Deutschland und seinen neuen Roman

taz: In der Türkei eskaliert die Gewalt. Wie erleben Sie als Schriftsteller das Land?

Orhan Pamuk: Ich bin kein Schriftsteller, der sich direkt mit der Politik befassen will, ich war es nie, und als meine ersten Bücher erschienen, habe ich gesagt: „Ich wohne in einem Elfenbeinturm und tue das gerne.“ Nun, seit zwölf Jahren veröffentliche ich Romane, und trotz meines Widerstandes hat mich das Leben eingeholt. Das hat mit der Eskalation der Gewalt zu tun, von der Sie eben sprachen, und mit der Sackgasse, in die das Land geraten ist.

Was für eine Sackgasse?

Die Türkei wurde in verschiedene „Gemeinden“ gespalten – eine islamistische Gemeinde, die die Sharia wieder einführen will; eine Gemeinde, die die Anerkennung der kurdischen Identität fordert; eine andere Gemeinde, die ebenso fundamentalistisch wie ihre Widersacher den Laizismus und die Verwestlichung verteidigt und so weiter. Und entsprechend dem Wesen des jetzigen Staates konnte kein Dialog zwischen diesen unterschiedlichen „Gemeinden“ entstehen, wie man es in einer demokratischen Gesellschaft erwarten würde. Der Staat versucht all diese unterschiedlichen „Gemeinden“ mit Gewalt zusammenzuhalten, indem er die Demokratie einschränkt, und er hat keinen Erfolg damit. Ein Beispiel: Die militärische Lösung der Kurden-Frage stürzt die Türkei tief in den Abgrund, sie fördert den türkischen Nationalismus. Der anhaltende Krieg zwischen der PKK und der Armee bereitet mittlerweile den Türken genauso große Leiden wie den Kurden. Die Kosten des Krieges sind untragbar geworden. Die Militärs, die wegen dieses Krieges zu den eigentlichen Drahtziehern der türkischen Politik avanciert sind, lassen die Demokratie immer mehr einschränken, und deshalb befinden sich Intellektuelle und Schriftsteller im Konflikt mit dem Staat. Ein Beispiel dafür ist die Affäre um Yașar Kemal. [Kemal, der populärste zeitgenössische Autor der Türkei, hatte im Spiegel vom 9.1. 1995 die türkische Kurden-Politik ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ genannt. Daraufhin wurde in der Türkei wegen „Separatismus“ gegen ihn ermittelt. Ein Prozeß steht bevor. D. Red.]

Warum hört man von anderen Stimmen nichts?

Die Stimme der kritischen Intelligenz in der Türkei wird unterdrückt. Der große Boom im Medienbereich, die voranschreitende Monopolisierung der Medien bringt es mit sich, daß radikale Systemkritik in der Türkei totgeschwiegen wird. Als Kemal und Nesin aber ihre Kritik in ausländischen Zeitschriften veröffentlichten, konnten unsere Medien nicht mehr so leicht darüber hinwegsehen. Was Yașar Kemal im Spiegel schrieb, wird von anderen Intellektuellen seit langem gesagt. Heute sitzen Hunderte von Journalisten im Gefängnis, viele Schriftsteller sind wegen ihrer Bücher verurteilt worden. Die Intelligenz schweigt nicht, aber der schleichende Nationalismus in der Öffentlichkeit führt dazu, daß ihre Stimme unterdrückt wird. In den letzten drei oder vier Monaten hat sich hier vieles geändert.

Inwiefern? Konnte man davor seine Meinung freier äußern?

Sowohl die Öffentlichkeit als auch die Medien gehen durch den Druck der Militärs intoleranter mit Kritik um. Ich glaube nicht, daß Yașar Kemal oder ein anderer Schriftsteller vor drei Jahren am Anfang der heutigen Großen Koalition vor Gericht gestellt worden wäre. Die Medien fügen sich heute wie von selbst dem schleichenden Nationalismus im Land. Und das ist eine Folge des anhaltenden Krieges.

Vor einigen Wochen besuchte Cem Boyner, der Vorsitzende der neugegründeten „Bewegung für neue Demokratie“, Deutschland, und er sagte gegenüber dieser Zeitung, daß die türkische Gesellschaft diesen Krieg leid ist. Teilen Sie diese Ansicht?

Ich glaube nicht, daß die Intellektuellen mit dieser Ansicht ganz alleine sind. Andererseits glaube ich auch nicht, daß die türkische Öffentlichkeit die Leiden dieses Krieges schon wirklich satt hat und ihn beenden will. Auch die mit der PKK sympathisierende kurdische Öffentlichkeit ist noch nicht soweit. Die Presse beider Seiten rühmt sich tagtäglich der Siege, die sie in diesem Krieg errungen haben will.

In Deutschland wird über die Abschiebung von kurdischen Flüchtlingen diskutiert – ist das eine vertretbare Praxis?

Nein. Meiner Auffassung nach kann ein wirklicher politischer Flüchtling nicht in sein Herkunftsland zurückgeschickt werden. Wenn es so etwas wie ein „Europa- Ideal“ gibt, dann wäre das ein Widerspruch dazu. Es gibt in Europa seit Jahrhunderten politische Flüchtlinge, und daß Flüchtlinge nicht zurückgeschickt werden dürfen, scheint mir eine Grundregel der politischen Moral.

In Ihren Romanen spielt häufig die Frage der türkischen Identität eine Rolle, die uns allen seit der Gründung der Republik aufgezwungen zu sein scheint.

Diese Problematik geht viel weiter zurück. Die Türkei versucht seit zwei Jahrhunderten, ihre Zivilisation zu wechseln. Nach den militärischen Niederlagen des Osmanischen Reiches gegen das überlegene Europa hat sich der Staat fast gezwungenermaßen für eine Verwestlichung der gesellschaftlichen Strukturen entschieden. Eine dermaßen weitgehende Entscheidung stürzt die Menschen ganz selbstverständlich in eine kulturelle Krise. Mit meinen Romanen will ich aber auch aufzeigen, daß das Identitätsgerede weitgehend leeres Geschwätz ist.

Was steckt denn dahinter?

Dahinter stecken die Armut in diesem Land, wirtschaftliche Probleme, verschiedene Nationalismen, die Schwierigkeiten beim Übergang zu einer modernen Gesellschaft.

Die Identitätsfrage wird auch unter den Türken in Deutschland heiß diskutiert. Sie selbst waren auch vor acht Jahren in Deutschland. Jetzt haben Sie wieder viele Städte bereist. Wie sehen Sie die Lage heute?

Die Türken hier erleben die für uns schon fast traditionelle Identitätskrise auf viel stärkere Weise. Als ich vor acht Jahren in deutschen Städten gelesen habe, wurde ich zumeist von politischen Flüchtlingen aus der Türkei betreut. Für sie war Deutschland noch ein völlig neues Land, das es zu entdecken galt. Die deutsche Kultur als ein Teil der westlichen Zivilisation hatte sie negativ oder positiv beeindruckt. Deutschland war ein Gelobtes Land, hier lagen ungeahnte Möglichkeiten. Eine typische Szene für mich: Die Vorsitzenden der Kulturvereine, die mich eingeladen hatten, machten mit mir Stadtbesichtigungen, sie zeigten mir fast mit Stolz und mit viel Bewunderung die Bibliotheken, die Einrichtungen des öffentlichen Lebens, die Krankenhäuser oder die Museen. Deutschland war für sie ein Land voller Wunder, von dem sie wie geblendet waren.

Und heute?

Heute herrscht nur das Gefühl der Frustration. Der Zauber ist völlig verschwunden.

Was ist die Ursache dafür?

Diese Menschen haben nichts von dem erreicht, was ihnen die deutsche Gesellschaft verheißen hatte. Sie haben sich nicht in dieser Gesellschaft etablieren können. Der deutsche Nationalismus hat sie einfach draußen vor der Tür stehengelassen.

Ihr neues Buch spielt in Istanbul.

Als ich geboren wurde, hatte Istanbul eine Million Einwohner; heute sind es vielleicht zehn Millionen oder mehr. In der türkischen Literatur gibt es keine starke Tradition des Stadtromans, Istanbul ist in Romanen ganz selten zum Schauplatz gewählt worden. Ich glaube, daß ich in diesem Zusammenhang ziemlich privilegiert bin: Eine Stadt wächst von einer Million auf zehn Millionen Menschen heran, und es gibt nur eine Handvoll Schriftsteller, die einen solchen Prozeß von innen her beobachten und miterleben durften.

„Das schwarze Buch“ ist ein Stadtroman; ein mit über fünfhundert Seiten ziemlich voluminöser Versuch, diese Stadt zu begreifen, aber auch die Geschichte einer Suche, ein Kriminalroman ...

... ein Kriminalroman mit metaphysischem Hintergrund. Der Rechtsanwalt Galip sucht nicht nur seine verschwundene Frau Rüya, seine Suche hat auch ein anderes Ziel – wie es auch bei den mystischen Texten, Allegorien oder Romanzen der Fall ist, auf die mein Buch ständig verweist, zielt diese Suche nicht bloß auf ein bestimmtes Objekt oder eben auf den geliebten Menschen, sondern auf den Sinn des Lebens.

Der Roman wurde mit Ecos „Der Name der Rose“ verglichen.

Ich ließ mich eher von Borges inspirieren. Ich habe versucht, populäre Kultur mit einem essayistischen Stil zu verknüpfen. Ich lasse den Leitfaden oft fallen und gehe zu ganz anderen Geschichten über. Die Geschichte der Suche und die Kriminalgeschichte bilden einen Rahmen. In diesen Rahmen habe ich vieles eingetragen, das, sagen wir mal, aus meinem Herzen kam: die Kultur des Orients, die islamische Kultur, mystische Geschichten und sogar Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Man kann sagen, „Das schwarze Buch“ sei meine ganz persönliche Enzyklopädie Istanbuls. Interview und Übersetzung aus

dem Türkischen: Dilek Zaptcioglu