Und ab und zu ein Polaroid

■ Das Tacheles gibt sich bilateral gesamtkunstwerklich: Kunst aus Paris und Berlin auf allen Etagen

„Où est l'amour?“ – Wo ist die Liebe? Ein genreübergreifendes Gemeinschaftsprojekt mit der „jüngeren radikalen Künstlerszene“ aus Paris war im Tacheles angekündigt, das am Mittwoch mit der neuesten Produktion des Rudimentär-Theaters eröffnet wurde. Die Frage nach der Liebe ist sehr berechtigt, wenn es um Vladimir Sorokins Erzählung „Ein Monat in Dachau“ geht, die die Grundlage der einmaligen Performance bildete. Dieser Text von 1992 beschreibt die Reise des Autors von Moskau nach Dachau und führt durch 26 Zellen, in denen er entsetzlichen physischen und psychischen Folterungen ausgesetzt ist.

Als Foltererin fungiert Margarethe/Gretchen, ein Doppelwesen, dessen Namensbezüge zu Celans „Todesfuge“ und Goethes „Faust“ deutschen Faschismus und Humanismus verschmelzen lassen. Margarethe/Gretchen ist gleichzeitig die Geliebte des Russen, und als es am Ende zu einer abgründigen Hochzeit kommt, hat Sorokin alle hier nur denkbaren Gegensatzpaare Spalier stehen lassen. Der Text nimmt Zuflucht zum Ornament: eine pervertierte Litanei ist im Buch pyramidal gesetzt.

Das Rudimentär-Theater, eine Gruppe mit wechselnden SchauspielerInnen um den Regisseur Hendrik Mannes und den Dramaturgen Dmitri Amiian, macht seinem Namen in dieser Produktion alle Ehre. Drei SprecherInnen tragen den schwierigen Text mikrofonverstärkt im Wechsel oder gleichzeitig derart vor, daß er oft nicht einmal akustisch zu verstehen ist. Währenddessen sind Rudimente davon zu lebenden Bildern geronnen. In der heruntergekommenen Pracht des Tacheles-Theatersaales stellt sich durch die Verschränkung von vier separaten, hermetischen und monotonen Handlungen zum Klang der Sprache eine Art Spieldosen-Ästhetik her. Sorokins Höllenfahrt wird als Psychose gelesen und zum Tic verkitscht.

Ein Mann im weißen, gestärkten Hemd mit Manschetten (Uli Krauss) häutet ein von der Decke baumelndes Reh, zerhackt es und brät das Fleisch in einem riesigen Topf. Auf einem langen Tisch liegen Karotten, Zwiebeln und Brot bereit, nach zwei Stunden ist die Mahlzeit fertig und wird an das Publikum verteilt. Ein Schattenboxer mit geteiltem Vollbart (Jason Träder) boxt Schatten und schießt ab und zu ein Polaroid. Eine Tänzerin mit kahlrasiertem Kopf (Fine Kwiatkowski) trippelt und rennt und schreitet im blau-härenen Gewand durchs Geschehen, zieht sich manchmal ihr Kleid über den Kopf und schlängelt mit den Händen – eine Mischung aus Streetdance und Ausdruckstanz. Ein Musiker (Christoph Winckel) betätigt seinen Baß und erschöpft sich einmal in einer dadaistischen Nummer am Klavier. Das ist alles.

Wenn man sich schon für eine solche Dramaturgie des konditionierten laissez faire entscheiden muß, darf man jedoch das Publikum nicht vergessen. Angebote zur selbsttätigen Zerstreuung hätten die Vorstellung vielleicht gerettet, wenn die ZuschauerInnen zu einem Chaos von Normalität und Wahnsinn beigetragen hätten. Aber man war zum Ölgötzentum verdonnert, was dieses Projekt sofort als humorlose Sinnhuberei entlarvte. Anschauung statt Orgie, Exerzitie statt grausamem Spiel. Die Rudimentärs sind Missionare, doch ohne Mission. Und als solche wirken Avantgardisten ohne Richtung besonders trostlos. Petra Kohse

***

Highlife im Tacheles. Im Theatersaal im ersten Stock brachte am Mittwoch abend das Rudimentär- Theater Berlin eine Performance nach Vladimir Sorokins Erzählung „Ein Monat in Dachau“ zur Aufführung; gleichzeitig wurde in der dritten und vierten Etage eine Gruppenausstellung von jungen internationalen KünstlerInnen eröffnet. Ein großer Abend also – oder doch eher ein Flop?

In Sorokins Text, einem fiebrigen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart oszillierenden Alptraum, gibt es eine Passage, in der der Ich-Erzähler auf seiner imaginären Reise ins KZ eine widerliche kannibalistische Tortur durchlebt. Es wird ihm eine Mahlzeit vorgesetzt – Menschenfleisch, die gekochten Schenkel „eines reizenden jungen russischen Mädchens“.

Im dritten Stock präsentiert nun der Pariser Künstler Phillippe Desloubières eine Arbeit, die direkt auf diese Textpassage Bezug zu nehmen scheint: er zeigt Frauenbrüste aus Gips, gespickt mit Verkaufsschildchen aus dem Fleischerladen. „Leicht gepökelte Brust“ steht da, „lackierte Brust“ oder „gefüllte Brust“ – mit einem kleinen rosa Schweinchen am Dekolleté. Doch so wie es dem Rudimentär-Theater an diesem Abend gefiel, Sorokins Erzählung in einer dramaturgischen Fingerübung bis zur Beliebigkeit zu zerhacken, so platt ist der Effekt der surreal angehauchten Objekte von Desloubières.

Überhaupt ist Beliebigkeit das hervorstechendste Merkmal dieser Ausstellung. Die zwölf Künstlerinnen und Künstler vollführen einen Parforce-Ritt durch sämtliche Stile und Kunstrichtungen der letzen dreißig Jahre: eine Prise abstrakter Expressionismus, ein bißchen Keith Haring, ein Schuß Fluxus à la Daniel Spoerri; da ist alles dran, nur keine Originalität. Beachtlich auch die Leistung des Fotografen Olivier Dabit: der wollte wohl den BewohnerInnen des Pariser Abbruchviertels Belleville ein Denkmal setzen – herausgekommen ist Sozialkitsch pur.

Die einzige Ausnahme in dem kunterbunten Allerlei ist die Fotoarbeit der Algerierin Fouzia Chakour. Chakour hat eine kleine Modenschau inszeniert, vorgeführt werden ein extravaganter Regenmantel, ein Abendkleid, eine Latzhose, T-Shirts und Miniröcke. Doch keines der Kleidungsstücke, die Chakour vor einem hellen Hintergrund abgelichtet hat, ist Prêt- à-porter. Chakours Kollektion besteht aus lauter Miniaturen. Es sind winzige Stoff-Fetzen, die die Illusion von Mode hervorrufen. Bei dieser witzigen, unbekümmerten Spielerei macht das Hinsehen Spaß. Ein Lichtblick im Dunkel am Oranienburger Tor. Aber: „Où est l'amour?“ – Wo ist die Liebe? Ulrich Clewing

Ausstellung bis 2. 4., Di-So 15-22 Uhr, Tacheles, Oranienburger Straße 53-56; ein weiterer Teil des Projektes in der Aktionsgalerie, Große Präsidentenstraße 10, bis 2. 4., Di-So, 22-1 Uhr, beides Mitte.