Die schlimmsten Reisen

Die Interessengemeinschaft „Camcorder“ wider die Arglist der Urlaubswelt. Eine Fallgeschichte, auch eine Buchbesprechung  ■ Von Edith Kresta

Also, mein schlimmstes Reiseerlebnis war die Türkei. Zwei Wochen Pauschalurlaub in einer „grünen, ruhigen“ Anlage in Antalya. Dabei, so muß ich gestehen, interessierte uns, Max und mich, nicht im besonderen das Land, sondern wir wollten Sonne, Ruhe, Wasser. Erholung zum möglichst günstigen Preis. Nun, man kennt sie ja, die Horrorstories aus dem Bauch des touristischen Molochs. Aber die Realität ist schlimmer.

Ein Schock schon die Ankunft. Bauruinen säumen unseren Weg, kein Pflänzchen, nur Betonburgen entlang der Küste, dicht an dicht – keine Sicht aufs Mittelmeer. Die Anlage selbst ist verwinkelt, auf allen Seiten unbarmherzig begrenzt von der nächsten Anlage, die sich jeweils durch eine gänzlich andere Bauweise abhebt. Hinter uns, vor uns, an den Seiten – Mauern, Mauern. In sich selbst ist unsere Anlage ein schwer durchschaubares Labyrinth von immer wieder zusätzlich angebauten, wahllos hingestellten Häuserblöcken. Der Raum ist maximal genutzt, das bißchen Grün minimal verstreut. Unser Zimmer geht auf die anlageninterne Bummelmeile. Leder- und Schmuckgeschäfte, Cafés und Bars kämpfen um die Gunst der Urlauber. Und da man über diese schmale Bummelmeile fast ins gegenüberliegende Zimmer fassen kann, ist es, als flanierten die Urlauber mit den eifrig feilschenden Händlern durch den eigenen, ohnehin sehr beengten Raum. Ganz zu schweigen von der ewigen Dudelmusik. Nachts, als von allen Seiten Fetzen fröhlicher Shows und lauter Unterhaltungsmusik grell gemischt herüberdringen, wälzen wir uns schweißgebadet von links nach rechts und umgekehrt. Mit dem Hinweis auf die im Prospekt verbürgte Ruhe, fordern wir morgens ein anderes Zimmer.

Etwas später finden wir uns im gegenüberliegenden Block in einem dunklen, immerhin kühlen Kellerloch wieder. Strafversetzung? Egal. Hauptsache Ruhe. Doch schon am Nachmittag steht das Zimmer unter Wasser. Die Kleider in unseren mangels Abstellmöglichkeiten auf dem Boden stehenden Stoffkoffern lassen sich auswringen. Ärger. Doch wir sind nicht allein. Inzwischen hat sich eine Interessengemeinschaft „Camcorder“ gegründet. Ein eifriger Berliner Hauptkommissar, im Schlepptau zwei Berlinerinnen, Muschi und Susi, wie sich später beim schriftlichen Verkehr herausstellt, haben von einem geschwätzigen türkischen Zimmermädchen, sie war mal zwei Jahre in Berlin, von unserem Pech gehört. Mit dem Camcorder stürzen alle drei in unser Zimmer. Nur dürftigst bekleidet muß ich die nassen Sachen vor der Kamera demonstrativ auswringen. Kein schönes Bild. Der Berliner dokumentiert jede Einzelheit unterschlagener Urlaubsfreude. Scheinbar ziellos durchstreift er immer wieder die Anlage, den Camcorder stets zur Hand. Kein Indiz ist ihm zu banal: die mit herrlichen Funken herabfallende Elektroleitung direkt neben dem Schwimmbecken, den Wassernotstand in unserem Zimmer, die schlecht abgesicherten Balkone, die toten Käfer im Schwimmbecken... Er und sein weiblicher Flankenschutz wollen in Berlin als Rächer der Geprellten gegen den Veranstalter klagen und gegenseitig als Zeugen auftreten.

Zwei Stunden später sind wir zum dritten Mal innerhalb von zwei Tagen umgezogen. Diesmal haben wir ein Zimmer in eine ganze neue Richtung, mit Blick aufs Schwimmbecken. Das ist azurgrau. Als ich einen Goldohrring darin verliere (in der Türkei ist Gold ja sooo billig) und voll ausgerüstet mit Brille und Flossen danach tauche, ist die eigene Hand vor der Taucherbrille nicht zu sehen, geschweige denn ein bescheidenes Stück Gold. Wasser ist hier eben knapp, der Tourismus ein luxuriöser Wasserfresser, tröste ich mich. Wir verziehen uns bis spätabends ans Meer. Im Zimmer kann man sich unmöglich aufhalten. Ohrenbetäubendes Pool-Gekreische den ganzen Tag. Wir hoffen auf eine ruhige Nacht. Doch das Grauen kommt fröhlich daher, die Musik gnadenlos. Unser Zimmer ist sozusagen ein Logenplatz zum Abend für Abend füllenden Programm: Singwettbewerb, Bauchtanz, Folklore ... alles rund um den Pool. Dort werden Scheinwerfer, Tische und riesige Boxen aufgefahren. In unserem Zimmer im dritten Stock hat man das Gefühl, im Lautsprecher eingesperrt zu sein. Für ewig lärmgeschädigt? Wohin sollen wir uns wenden? Überall rundherum: Lärm, Animation, Musik, Gekreische. Kein ruhiges Fleckchen, nicht einmal am Strand. Dort steht Bar neben Bar, und jede hat ein noch abwechslungsreicheres Unterhaltungsprogramm zu bieten. Die Phantasie der Hoteliers und Barbesitzer ist grenzenlos. Nicht unser Lärmempfinden: nach der dritten durchwachten Nacht, den verzweifelten Aufbleibversuchen im Getümmel frühmorgens, den schweigsamen Besäufnissen, da Unterhaltung bei dem Lärm unmöglich ist, packen wir restlos verkatert, resigniert und gereizt die immer noch feuchten Koffer. Vorher reihen wir uns noch in die Interessengemeinschaft „Camcorder“ ein. Unserer Schlachtruf: Nie wieder Türkei pauschal!

„Nie wieder!“ ist auch der Titel eines Buches von Hans Magnus Enzensberger. Eine Sammlung der schlimmsten Reisen der Literatur nach Kontinenten geordnet. Schriftsteller wie Orwell, Alfred Döblin, Joseph Roth, V.S. Naipaul, aber auch unbekanntere Autoren erzählen von schweren Stunden in fremden Ländern: von heißen Nächten auf den Spuren des Kannibalen Bokassa in der Zentralafrikanischen Republik, von Verirrung im sibirischen Eis, von Stürmen in klapprigen Flugzeugen, von aufdringlichem Personal, Wanzen und Zwei- und Vierbeinern der erschrecklichsten Art. Wunderschön abgefahrene Gruselgeschichten! Vielleicht hat Enzensberger, der sich ein Vorwort zu der Anthologie ersparte, noch einmal heimlich auf seine Tourismuskritik Ende der fünfziger Jahre geschielt. Enzensberger bezeichnete damals den Tourismus als „selbstzerstörerische Fluchtbewegung“. Nun zeigt er uns endlich, warum es zu Hause am schönsten ist.

„Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt“, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, aus der Anderen Bibliothek, 350 Seiten, 48 DM