Kapitale Kapitale

Das Großherzogtum Luxemburg, bisher eher als Banken-Metropolis und Steuer-Fluchtburg bekannt, feiert sich mit über 500 Veranstaltungen als „Europäische Kulturhauptstadt 95“ oder: „Mir wölle bleiwe wat mir sin“  ■ Von Günter Ermlich

Er ist nackt, schwarz und muskulös. Den Oberkörper gebückt, balanciert er auf dem rechten Bein, verrenkt sich artistisch die übrigen Gliedmaßen und läßt seine Glatze nach vorn blicken. Eine menschliche Skulptur vor abblätterndem Wandputz. Das großformatige Schwarzweißfoto mit männlichem Pin-up ist Blickfang der offiziellen 24seitigen Programmbroschüre für „Luxemburg, europäische Kulturhauptstadt 95“. „Das war Staatsterror“, schmunzelt Joe Kox, PR- Manager des Kulturjahr-Events. Denn eines Morgens wachten alle 118.000 Luxemburger Haushalte mit diesem Foto in ihrem Briefkasten auf. Am nackten Mann, „de Plakert“ im Einheimischen-Idiom Lätzebuergesch getauft, entbrannte nicht nur in den Leserbriefspalten ein heftiger „Kulturkampf“.

Zu Jahresbeginn hat das kleine Großherzogtum den Staffelstab als „Kulturhauptstadt Europas“ von Lissabon übernommen und wird ihn 1996 an Kopenhagen weiterreichen. Melina Mercouri, die damalige griechische Kulturministerin, heckte die Idee der Kulturhauptstadt 1985 aus. Seitdem waren unter anderem Athen, Berlin, Paris und Antwerpen an der Reihe. Welch ein Segen, freuen sich die Luxemburger, das straffe Image- Korsett (Bollwerk internationalen Kapitals) etwas lockern zu können. Nicht nur Quellensteuer-Flüchtlinge, auch Kulturtouristen (möglichst solvente) sind im „Ferienland“ willkommen. Die Tourismusindustrie, nach Stahl und Banken die dritte Wirtschaftskraft im Land und schon seit Jahren „in vollem Aufschwung“, erhofft sich durch das Kulturjahr den entscheidenen Kick nach vorn.

Also brach in Luxemburg, bisher nicht unbedingt als Kapitale mit Kulturappeal bekannt, unlängst das Kulturfieber aus. „365 aufregende Tage“, „31.536.000 Sekunden voll Gefühl“ soll es mindestens währen. Los ging's mit einer Postimpressionisten-Ausstellung aus Schweizer Privatbeständen im renovierten historischen „Casino“. Mindestens zwanzig der fünfhundert Mann starken Freiwilligenarmee Luxemburgs, seit 1948 im Schoß der Nato, sind zum Dienst an der Kunst abkommandiert: Soldaten zu Museumswärtern! Sie wachen in ihrer respekteinflößenden olivgrünen Uniform darüber, daß keins der Meisterwerke von Cézanne, Toulouse-Lautrec oder Matisse den Besitzer wechselt.

Konzerte von José Carreras, Anne Sophie Mutter und Juliette Greco, die Opern-Uraufführung „Elektra“ von Mikis Theodorakis, die Expressionisten-Ausstellung des Berliner Brücke-Museums oder die Sammlung des Fürsten von Liechtenstein werden folgen. Weil die luxemburgische Hauptstadt aber, rein zahlenmäßig betrachtet, nur eine Kleinstadt mit 80.000 Einwohnern ist, hat man das Programm aufs ganze Land erweitert: Im Viandener Schloß gibt es die Schau „Flämische Wandteppiche“, im Schloß von Clervaux die berühmte Fotoausstellung „The Family of Man“ des US-Starfotografen Edward Steichen (ein gebürtiger Luxemburger Jung!), und zu den „Mondorfer Dichtertagen“ kommen Autoren wie Fernando Arabal, Tschingis Aitmatow, Ludwig Harig. Sicher, das pralle Festivalprogramm – 550 Veranstaltungen in allen Kultursparten – ist kunterbunt und lebt von den hochkarätigen Importen. Denn wo soll das mit 2.586 Quadratkilometern vermessene Großherzogtum, mit 400.000 Einwohnern gerade mal so klein wie Bochum, die kulturellen Eigengewächse herzaubern?

So schreiben sich die Luxemburger einfach den Promotion-Slogan „Stadt aller Kulturen“ auf die überall in der Stadt flatternden Fahnen und geben sich als „multikulturelles Projekt“ aus. Seit 1952 Sitz der Montanunion für Kohle und Stahl, neben Brüssel und Straßburg eine der drei „Verwaltungshauptstädte Europas“. Weitere EU-Institutionen wie das Sekretariat des Europaparlaments, der Europäische Gerichtshof und der Europäische Rechnungshof kamen hinzu. In Luxemburg-Stadt leben 51 Prozent Ausländer, im ganzen Land sind es 31 Prozent, darunter allein 40.000 Portugiesen. Von Ausländerfeindlichkeit nichts zu spüren. Drei Amtssprachen, die schon jedes Schulkind beherrscht: Französisch, Deutsch und Lätzebuergesch, ein moselfränkischer Dialekt, der von den Einheimischen gesprochen wird und der Kitt der Luxemburger Identität ist. „Wir sind halt anpassungsfähig“, sagt der Dechant im nordluxemburgischen Vianden, wenn er in seiner Messe von Französisch auf Deutsch und dann auf Lätzebuergesch switcht. „Wir sind eben ein Mischling, ein Produkt Europas“, sagt der Fremdenverkehrswerber.

Multikulti, erzeuropäisch, weltoffen trifft den Luxemburger Nerv ganz gut. Aber monarchistisch, politisch konservativ, konsensorientiert ist auch nicht abwegig. Wo wurde je eine Monarchin so vergöttert wie die 1985 verstorbene Großherzogin Charlotte? Mit Geldern aus dem Volk, einer nationalen Subskription, wurde ihr ein Denkmal gesetzt. „Mir wölle bleiwe, wat mir sin“ steht auf dem Erker eines schönen Hauses am Fischmarkt. Dieser trotzige Wahlspruch ist der Refrain des Nationallieds. Nach dem jahrhundertelangen Joch der Fremdherrschaft halten die Luxemburger die Reihen fest geschlossen. Das Land – es herrscht Wahlpflicht! – wird seit über vierzig Jahren von den Konservativen regiert (Ausnahme ist die Regentschaft des liberalen Gaston Thorn). „Wer hätte gedacht, daß Jacques Santer schon nach zehneinhalb Jahren wieder sein Amt niederlegen würde“, wunderte sich ein Fernsehjournalist in der Sendung „Hei elei, kuck elei (etwa: „Sieh mal an!“) Als Santer, der konservative Ex-Premier, dann als Kommissionspräsident der EU gewählt wurde, stimmte auch Jupp Weber, der einzige luxemburgische grüne EU- Abgeordnete, brav für seinen Landsmann. Und wenn in der Pilgerzeit die Statue der „Trösterin der Betrübten“, die Mutter Gottes Luxemburgs, durch die Straßen getragen wird, dann marschieren die Lätzebuerger Kommunisten einträchtig mit ihrem Großherzog und dem römischen Nuntius.

Noch um die Jahrhundertwende war Luxemburg ein bitter armes Agrarland. 70.000 Menschen wanderten nach Amerika und Brasilien aus. Der wirtschaftliche Aufschwung kam mit der Ausbeutung des Eisenerzes. Zu Hochzeiten waren beim Stahlkonzern Arbed 30.000 Arbeiter beschäftigt, heute sind es noch knapp 7.000. Der letzte Hochofen wird bald dichtgemacht. Doch die Luxemburger managten geschickt die Stahlkrise Mitte der siebziger Jahre, indem sie aufs Bankgeschäft setzten und zum inzwischen siebtgrößten internationalen Finanzplatz aufstiegen. Hier kennt man keine Quellensteuer, dafür achtet man das Bankgeheimnis. „Wir sind nicht Vollzugsbeamte der deutschen Finanzämter“, heißt es. „Das schönste an Luxemburg sind seine Anlagen“, versichert eine Bank.

Von zehn Partnern des 75 Millionen teuren Kulturjahrs treten „Gott sei Dank nur vier Banken als Hauptsponsoren“ in Erscheinung, gibt PR-Manager Joe Kox erleichtert zu. Vier von 220 Banken (darunter ein Drittel deutsche Filialen). Macht eine Bank auf weniger als 2.000 Luxemburger! An diese Bankendichte reicht höchstens noch die Gourmetrestaurant- Dichte mit 13 Michelin-Sternen heran (Luxemburg ist Drehscheibe der bipolaren Eßkultur zwischen deutsch-deftig und französisch-raffiniert.) Auf dem Kirchberg-Plateau, wo auch die EU-City liegt, hat die Gemeinde den Banken Bauland bereitgestellt. Und so wuchert das Bankenzentrum mit immer protzigeren Beton- und Glaspalästen – und mit viel Kunst am Bau. Erst seit kurzem gibt es einen Urbanisierungsplan.

„Über die Statistik, eines der reichsten Länder Europas zu sein, sind wir gar nicht so glücklich“, sagt der staatliche Tourismuswerber. Doch die Statistik ist gnadenlos: Luxemburg ist europäische Spitze beim Pro-Kopf-Einkommen. 17.000 Bankbeamte, 7.000 EU-Beamte, wenig Arbeiter. 50.000 Pendler kommen zum Schaffen aus den grenznahen Regionen. Belgien, Frankreich und Deutschland liegen jeweils nur 20 Autominuten entfernt. Fast wie bestellt zum Kulturjahr, wurde im Dezember 1994 die Altstadt mit der Festung und das mittelalterliche Stadtviertel Grund zum Weltkulturdenkmal der Unesco erklärt. Bereits seit 1991 hatte Luxemburg auf den Titel hingearbeitet. Besonders ambitioniert ist die Teilrekonstruktion der alten Festungsarchitektur – an der Stelle, wo 963 der Ardennergraf Siegfried auf dem Bockfelsen den Grundstein der „Lützelburg“ legte. 1867 wurde Luxemburg unabhängig, die mächtige Festung geschliffen. „Wie ein Kriminalroman“ seien die Instandsetzungsarbeiten der dritten Ringmauer gewesen, erzählt Georges Calteux, der oberste Denkmalschützer, beim Gang über die Baustelle. Im verschütteten Festungsgraben fand man nicht nur überwucherte Mauerstücke, sondern auch Skelette und Pollen von Pflanzen aus dem Mittelalter. Die Denkmalschützer buddelten in Archiven, konsultierten Karten und Fotografien und konnten 200 als Kriegsgeheimnis gehütete Pläne aus der Zeit Ludwig XIV. und seines Baumeisters Vauban aus dem Pariser Dôme des Invalides freibekommen. „Dort wo die Hypothese beginnt, muß die Restaurierung aufhören“, war für Calteux und seine Crew die alleinige Handlungsmaxime. Also errichtete man dort, wo keine wissenschaftlich exakten Belege vorlagen, eine zeitgenössische Brücke aus Stahl oder Eisen statt einer alten Steinbrücke, konstruierte einen Treppenaufgang aus Beton und setzte obendrein auf die Mauer noch moderne Denkmäler. Calteux wendet sich gegen jede Art von „Retromentalität“, auch wenn das manch nostalgisch beseeltem Luxemburger überhaupt nicht passe.

Die archäologische Kärrnerarbeit ist fast zu Ende. „Das wird ein gewisses Happening“, freut sich der quirlige Denkmalschützer auf den 20. Mai. Dann wird der knapp drei Kilometer lange kulturhistorische Rundwanderweg „1000 Jahre in 100 Minuten“ durch die luxemburgisch-bewegte Geschichte eröffnet: 15 audiovisuelle Stationen, 3 Museen sowie Beschallungsorte mit Musik und Waffengerassel warten auf die Kulturtouristen. Und auch an die Freunde aus Nippon ist gedacht: 10 Photopoints („Hier stehen Sie...“) sollen die spätere Identifikation des Knipsorts erleichtern. Der Kulturtourist lernt, daß Luxemburg wegen seiner strategisch wichtigen Lage ein Punchingball europäischer Macht - und Militärpolitik war. Seit dem 13. Jahrhundert gaben sich die Burgunder, Franzosen, Spanier, Habsburger, nochmals die Franzosen und zum Schluß die Preußen die Klinke der Festung in die Hand. Erst im Londoner Vertrag (1867) garantierten die Großmächte die „immerwährende Neutralität“ Luxemburgs.

Unterhalb der Festung mit dem Bockfelsen, wo das Flüßchen Alzette sich windet, liegt die Unterstadt Grund, das alte Viertel der Handwerker. Dann wurde es zum „Portugiesenrevier“ für die Arbeitsimmigranten. In die alte Klosteranlage zog das Männer- und Frauengefängnis ein. Nachdem das heruntergekommene Viertel in den letzten Jahren zu 80 Prozent saniert worden ist, mausert es sich zum Schickmicki-Treffpunkt. Die alte Handschuhfabrik wandelte sich in luxuriöse Eigentumswohnungen. Und der Knast wird nun zum Musentempel. Im „Tutesaal“, wo früher die Knackis Tüten klebten, gibt's schon heute Konzerte und Ausstellungen.

Auch sonst ist Luxemburg im Baustellenfieber, ein Großreinemachen ist im Gange – nicht zuletzt wegen des Kulturjahrs. An die Decke der Bahnhofshalle hat der „Luxemburger Michelangelo“ bereits einen Sternenhimmel gepinselt. Der Intercity nach Brüssel ist voll von Schlipsträgern, die vom Fast-Vollbeschäftigung-Land ins grenznahe belgische Arlon zurückpendeln. „Der Name Kulturhauptstadt wird ein ganzes Jahr tragen“, so das verbürgte Wort von PR-Manager Kox. Immerhin. Auf dem deutschen IC-Bahnsteig angekommen, steht es auch auf einer riesigen Plakatfläche: „Banque Continentale du Luxembourg“, ab 150.000 DM, Telefon...“

Informationen zum Programm des Kulturjahrs: Luxemburgische Botschaft, Abteilung Tourismus, Adenauerallee 108, 53113 Bonn, Tel.: 0228/220586, Landesverkehrsamt Luxemburg, Postfach 1001, L-1010 Luxemburg, Tel.: 00352/400808.