Zehlendorfer Kinder kommen nie

Die Hoffnung, die Welt zu verändern, haben die Mitarbeiter des bundesweit einzigen Kindernotdienstes nach zwölf Jahren längst aufgegeben  ■ Von Thorsten Schmitz

Die Hoffnung war groß, ist einzigartig im Rest der Republik bis heute – und sie hat einen Telefonanschluß: Berlin, 61 00 61. Vor zwölf Jahren tutete unter dieser Nummer erstmals das Freizeichen des Kindernotdienstes. 24 Stunden am Tag, so die kostenlose Offerte noch immer, können Kinder in Zuständen von psychischer und physischer Apokalypse bei den Männern und Frauen anrufen. Sich ausheulen, auskotzen, helfen und fallenlassen.

Aber welches Kind im Unglück liest schon die Serviceseiten in zitty? Oder wählt die Auskunft an und fragt nach der Nummer eines Kindernotdienstes – von dessen Existenz es ja auch erst mal gehört haben muß? „Wir haben uns da was vorgemacht“, sagt Karl Droescher, 53, Chef des Kreuzberger Kindernotdienstes. Es sei eine „große Illusion“ gewesen, anzunehmen, daß ausgerechnet die Kinder, die von der Mutter geschlagen oder vom Vater vergewaltigt werden, per Telefon um Hilfe rufen. Das kommt vor, hat aber Seltenheitswert.

Tatsächlich rufen die Menschen an, vor denen diese Kinder flüchten: Erwachsene. Polizisten und völlig überforderte Jungmütter, nächstenliebende Nachbarn und ordentliche Onkels: Die alarmieren und appellieren, wo immer sie Kinder in Gefahr sehen und hören. Oft setzen Polizisten in Zivil Kinder in der Notrufzentrale Gitschiner Straße 49 ab.

Ausländische Kinder allerdings, deren asylbewerbende Eltern verhaftet werden, kommen nach wie vor in Grüner Minna. Warum, ist den Notdienstmitarbeitern ein Rätsel. „Wir arbeiten wie Pflasterkleber“, treffender könnte Karl Droescher die erste Hilfe seines Kindernotdienstes nicht skizzieren. Und so paßt es auch, wenn er, im medizinischen Duktus, von dreißig stationären Plätzen spricht, über die er frei verfügt. Die Kinder landen, unverhofft wie Hänsel und Gretel, in dieser Art Knusperhäuschen und bleiben so lange, bis man einen Heimplatz oder – bestenfalls – eine passable Lösung mit den Eltern gefunden hat. Sieben Erzieher können sich auf zehn Kinder konzentrieren. Kinder, die zwischen vier und sechs Wochen Unterschlupf brauchen, können sich erholen vom Terror der Erwachsenenwelt in einem Haus in Stralau, einer Art Wohnheim mit zwanzig Betten.

1.500 hoffnungslose Kinder flüchteten in den letzten Jahren unter die Obhut des Notdienstes und schliefen ihren Frust weg zwischen Kuscheltieren und Box- Sack. Die Erzieher, Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeiter haben im selben Zeitraum schätzungsweise 6.000 Beratungsgespräche geführt, die wenigsten am Telefon.

Karl Droescher kann es selbst kaum glauben, aber er kriegt es ja täglich mit: „Die Kinder fühlen sich wohl bei uns, obwohl wir hier eine Zusammenballung von Problemen haben, die höllisch ist.“ Womöglich fühlen sich die gestrandeten Kinder auch deshalb wohl, weil sie im Kindernotdienst Erwachsenen begegnen, die sie nicht schlagen, sexuell mißbrauchen, links liegenlassen, verachten, Druck ausüben. Diese Erwachsenen schützen die Kinder vor sich selbst – und vor „bösen“ Erwachsenen. Sie quatschen mit ihnen und versuchen dabei eben nicht, zehn Jahre fehlgeleitete Erziehung zu korrigieren. Sie futtern zusammen Spaghetti Bolognese und trinken Cola, sie kicken auf dem Hof Fußball und zwingen kein Kind, in die Schule zu gehen. Wenn ein Kind was sagt, wird es ernst genommen, und wenn es bleiben will, bleibt es. Gleichzeitig sind diese „guten“ Erwachsenen darauf erpicht, den Kindern ja nicht zu nahe zu kommen. Das muß ihnen erst mal einer nachmachen.

„Zuviel Nähe ist nicht gut, denn dann leidest du bei jedem Abschied“, sagt Karl Droescher stellvertretend auch für seine 65 KollegInnen, die es satt haben, von Journalisten über Wegwerf- und Wendekinderschicksale ausgequetscht zu werden. Dazu deshalb nur soviel: Die Klientel der kongenialen Kindertröster verfügt mit 12 zuweilen schon über ein erfahrungsreicheres Sexualleben als 40jährige, kommt immer aus denselben Familien, denselben Kiezen, denselben sozialen Verhältnissen. „Ein Kind aus Zehlendorf verirrt sich nie hierher“, sagt Droescher.

Um nicht an dieser Welt zu verzweifeln, die Kinder unter „Objekte“ katalogisiert, versucht Droescher nach Feierabend, „diese soziale Kacke zu vergessen“. Denn er und seine KollegInnen wissen natürlich auch, daß ihr Beruf nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigt. Nicht alle Kinder in Berlin schlafen unter Brücken, verkaufen ihren Körper auf dem Babystrich am Bahnhof Zoo, sind entstellt von blaugrünen Flecken. Und auch wenn man ihnen die entscheidenden Phasen ihrer Kindheit geraubt hat, sie sich schminken und rauchen und Bier trinken, bleiben es Kinder: „Wir dürfen die nicht als Erwachsene betrachten, das wäre ja furchtbar!“ sagt Droescher.

Im März vor 17 Jahren wurde der Notdienst – als Beratungsstelle in West-Berlin – das erste Mal aktiv. Inzwischen ist auch bei den Mitarbeitern die Hoffnung gewichen, die Welt ändern zu können. „Unsere Arbeit verändert nichts, diese Republik leistet sich fünf Prozent Underdogs“, summiert Karl Droescher seine jahrzehntelangen Erfahrungen. Je besser er und seine Kollegen funktionierten, desto mehr stabilisierten sie dieses System.

Droeschers Traum von politischer Sozialarbeit bleibt wohl einer. Denn: „Wen sollen wir dafür mobilisieren? Unsere Klienten? Die schämen sich nur. Die Besseren? Die haben uns ja gerade angestellt.“