Lösungswege aus dem Dilemma

■ Eine Analyse der Ursachen des Krieges in der Südosttürkei und Wege zur Lösung der Kurdenfrage / Auszüge einer Veröffentlichung des Instituts für türkisch-europäische Beziehungen in Bremen

Die Kurdenfrage entwickelt sich zunehmend zu einer Belastung in den deutsch-türkischen Beziehungen, aber ebenfalls für die in Deutschland lebenden Türken und Kurden. Eine Lösung dieses Konflikts wird erst dann möglich werden, wenn die Instrumentalisierung der Kurdenfrage durch äußere Mächte nach deren jeweiliger Interessenlage endlich aufhört.

Seit 1984 findet in der Südosttürkei ein blutiger Krieg statt. In diesem Krieg starben nach offiziellen Angaben bis Ende April 1994 13.401 Menschen, darunter über 2.320 Zivilisten. Nicht zuletzt auch deshalb muß dieser Krieg rasch beendet werden. Wir sind der festen Überzeugung, daß dies möglich ist.

Die kulturelle Identität der Kurden annerkennen!

Die offizielle türkische Politik hat es bis vor wenigen Jahren negiert, daß auf türkischem Staatsgebiet auch Kurden leben. Man behandelte und betrachtete sie ungeachtet ihrer kulturellen Eigenheiten als Türken. So lebte die kurdische Sprache, lebten kurdische Kultur und Tradition lediglich im Familienverband fort, für die Behörden existierte dergleichen nicht: In den Schulen blieb das Erlernen oder die Pflege der kurdischen Sprache bis heute untersagt, es gab und gibt keine kurdischen Rundfunk- oder Fernsehsendungen. Immerhin dürfen seit ein paar Jahren Zeitungen, Bücher und Kassetten in kurdischer Sprache frei vertrieben werden.

Dabei gibt es durchaus Beispiele im eigenen Land, wie man es hätte besser machen können. So haben die nach dem Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 als ethnische Minderheiten anerkannten Juden, Armenier und Griechen auch als türkische Staatsbürger das Recht, eigene Schulen sowie kulturelle und religiöse Einrichtungen zu betreiben, ihre Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln.

Im Gegensatz dazu wurden und werden die Kurden deshalb nicht als Minderheiten anerkannt, weil sie Muslime sind. Als Muslime werden sie trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft beziehungsweise Volkszugehörigkeit ohne Ausnahme als Teil der türkischen Bevölkerungsmehrheit betrachtet. Dies verhindert zwar ihre Diskriminierung vor dem Gesetz, wird aber der sprachlichen oder kulturellen Eigenständigkeit in keiner Weise gerecht.

In der Staatsphilosophie der Türkei spielt – im Gegensatz zu Deutschland – die ethnische Herkunft „nach dem Blute“ keine Rolle. Dies ließe sich auch in einem Staatswesen, in dem seit Jahrtausenden eine ständige Vermischung vieler Völker und Zvilisationen stattfand, kaum rechtfertigen. Anatolien war eben stets die Brücke zwischen Asien und Europa, hier hinterließen Hethiter, Griechen, Römer, Seldschucken, Osmanen und viele weitere Völker ihre Spuren. Die Türkei stellt ein Mosaik von 56 Sprachen und Dialekten nebst einer Vielzahl von Ethnien dar. Die moderne Staatsbürgerschaftsauffassung der Türkei sollte dieser Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Ethnien gerecht werden. Vor diesem Hintergrund kann man daher auch nicht von einer „türkischen Rasse“ sprechen.

Folgerichtig hatte somit für Atatürk, den Gründer der modernen Türkei, jeder, der innerhalb der Grenzen dieses Staates lebte, ein Anrecht auf die türkische Staatsbürgerschaft, und zwar ohne Rücksicht auf die ethnische oder sprachliche Zugehörigkeit. Und nur aus dieser Sicht heraus ist auch der gerade für viele Deutsche so irritierende Satz „Nemutlu Türküm diyene“ (Glücklich sei derjenige, der sich Türke nennt) verständlich. Als Deutscher verbindet man diesen Satz, der in der Türkei an vielen Plätzen zu lesen ist, sofort mit nationalistischem Gedankengut. Gemeint ist damit aber keineswegs eine herausragende Stellung der türkischen Rasse, von der wir überdies gerade gelernt haben, daß es sie in dem uns vertrauten Sinn gar nicht gibt, gemeint ist vielmehr, daß jeder, der auf dem Staatsgebiet der Türkei lebt und sich als Türke bezeichnet und betrachtet, glücklich sein kann, weil er in der Obhut dieses Staatswesens zu Hause ist. Wir sehen dadurch aber auch, wie schnell uns unser „deutsches“ Empfinden hier aufs Glatteis führt. Gewohnt, jemanden als deutsch zu bezeichnen, der deutschen Blutes, deutscher Abstammung ist, vollziehen wir damit das uns vom Gesetz aufgemachte Abstammungsprinzip des „ius sanguinis“. Es ist daher auch für einen Franzosen, Amerikaner oder Engländer überhaupt nicht nachvollziehbar, wieso ein in Deutschland geborener, hier lebender und arbeitender Mensch dennoch ein „Ausländer“ bleibt.

Bis in die achtziger Jahre hinein hat die oben beschriebene Staatsphilosophie der Türkei, ähnlich wie in den USA, nach dem Prinzip des Schmelztiegels die Assimilation der ethnisch-kulturellen Minderheiten zum Ziele gehabt. Da die Herkunft, die ethnische Zugehörigkeit keine Rolle spielte, war eben nicht nur eine rechtliche, politische und soziale Gleichstellung auf allen Ebenen der Gesellschaft gegeben, es wurde darüber hinaus auch echte Gleichbehandlung praktiziert. Dies führte in der Tat dazu, daß beispielsweise zwischen „Türken“ und „Kurden“ (also besser zwischen Menschen jedweder oder kurdischer Herkunft) weder im Personalausweis noch sonstwo in der Gesellschaft, sei es nun bei der Ausbildung oder im Berufsleben, ein Unterschied gemacht wurde. So machen kurdische Schüler mit ihren türkischen Klassenkameraden gemeinsam Abitur, absolvieren eine Hochschulausbildung, erhalten ein Auslandsstipendium und promovieren auch an ausländischen Hochschulen. Viele bekleiden heute ohne den geringsten Unterschied zu ihren Freunden „türkischer“ Herkunft höchste Ämter im Staatsapparat, bei der Armee, bei den Medien, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Viele Menschen kurdischer Herkunft sind selbst in Gebieten, die mehrheitlich von „Nichtkurden“ bewohnt werden, Bürgermeister, Professoren, Generäle, Staatssekretäre und Minister geworden; auch der verstorbene Staatspräsident Özal war seitens seiner Großmutter Kurde. Niemanden in der Türkei hat es – zumindest bis vor wenigen Jahren – interessiert, welcher Herkunft die Bewerberinnen und Bewerber für ein hohes Staatsamt waren, auch im amtierenden Kabinett sitzen Minister, wie der für Äußeres, Arbeit und Soziales, für Menschenrechte, die kurdischer Herkunft sind. Auch weit über 100 Abgeordnete kurdischer Abstammung sind im türkischen Parlament vertreten. Dies ist nicht nur heute, dies war auch gleich nach der Gründung der Republik Türkei ganz selbstverständlich.

Im Sinne einer objektiven und fairen Berichterstattung ist es nicht zuviel verlangt, wenn erwartet wird, die deutsche Öffentlichkeit auch über diese Fakten zu informieren, damit sich jede/r ihr/sein eigenes Bild von den Zuständen in diesem Teil der Welt machen kannn, aber, bitteschön, auf der Grundlage von Tatsachen und nicht von Vorurteilen.

Die kurdische Bevölkerung stellt in der Türkei mit einem Anteil von einem Sechstel bis einem Fünftel an der Gesamtbevölkerung die größte Minderheit dar. Es ist sicherlich der Wunsch großer Teile der kurdischen Bevölkerung, daß ihre kulturelle Identität offiziell anerkannt wird. Diesem berechtigten Anliegen sollte der türkische Staat schnell entsprechen. Dies bedeutet in der politischen Realität, daß die Türkei ihre Kurdenpolitik auf eine neue Grundlage stellen muß:

– Kurdisch muß als Muttersprache neben der Amts- und Schulsprache Türkisch in den Schulen angeboten werden und erlernt werden können,

– Rundfunk- und Fernsehsendungen müssen auch in kurdischer Sprache erlaubt sein,

– durch eine landesweite Verwaltungsreform sollte die stark zentralistisch auf Ankara ausgerichete Verwaltung gelockert werden, und zwar mit dem Ziel, den Kommunal- und Regionalparlamenten mehr Zuständigkeiten einzuräumen. Dies wäre schon im Sinne einer effizienteren Verwaltungsarbeit geboten und entspräche darüber hinaus auch demokratischen Grundsätzen.

Erst dadurch wären die Kurden nicht nur rechtlich, politisch und sozial, sondern dann auch kulturell auf allen Ebenen den Türken gleichgestellt. Solchermaßen praktizierte Gleichstellung ist aber die unverzichtbare Voraussetzung für ein gleichberechtigtes, friedliches

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und solidarisches Zusammenleben verschiedener Volksgruppen in einem politischen Gemeinwesen. Die amtierende konservativ-sozialdemokratische Koalitionsregierung wäre gut beraten, diese Schritte, die im übrigen bereits in den Koalitionsvereinbarungen angedeutet sind, nunmehr ohne Zeitverlust in Angriff zu nehmen.

Wir jedenfalls halten die zur Zeit offenbar praktizierte Strategie, die sogenannte kurdische Arbeiterpartei PKK, die mit militärischen Mitteln und durch Terroranschläge einen von der Türkei unabhängigen kurdischen Staat errichten will, diese PKK erst militärisch zu besiegen und dann die notwendigen Reformen durchführen zu wollen, für verfehlt. Diese Politik führt selbst bei denjenigen zu Unbehagen, die vorurteilsfrei nach Lösungen des Konflikts suchen, ohne die territoriale Integrität der Türkei in Frage zu stellen. (...)

Die PKK muß die Waffen niederlegen!

Die PKK ist eine nach streng stalinistischen Grundsätzen organisierte Kadertruppe, die auch den Terror erklärtermaßen zum Mittel ihres bewaffneten Kampfes für einen unabhängigen kurdischen Staat macht. Sie kämpft seit über einem Jahrzehnt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und laut eigenen Angaben mit weit über 10.000 bewaffneten und gut trainierten Kämpfern für einen unabhängigen kurdischen Staat. Sie operiert teilweise mit Unterstützung und Duldung der an die Türkei angrenzenden Staaten Syrien, Irak, Iran und Armenien. Viele Tausende Zivilisten wurden und werden weiterhin Tag für Tag Opfer des Terrors dieser selbsternannten Befreiungsbweung, von den vielen tausend Toten unter den türkischen Soldaten und den Kämpfern der PKK einmal ganz abgesehen. Die Türkei scheint fest entschlossen, die PKK völlig zu eliminieren; die PKK ihrerseits kündigt an, man werde diesen Krieg gegen den türkischen Staat „bis zum Sieg“ fortführen.

Die in der Region in meist schwer zugänglichen Gebirgsdörfern lebenden Menschen leiden am meisten unter diesem Krieg. Die Dorfbewohner müssen sehr oft gezwungenermaßen die PKK mit Nahrungsmitteln ausstatten und den Kämpfern, wenn nötig, Unterschlupf gewähren. Dadurch werden sie dann aber in den Augen des Staates zu deren „Helfern“, was dazu führt, daß sie in der Folge mit Repressalien zu rechnen haben. Die Leiden der Zivilbevölkerung zwischen den Fronten sind in jedem Fall unermeßlich groß.

Bleiben die Dorfbewohner aber gegenüber der PKK ablehnend, so müssen sie dies oft mit der Ausrottung eines ganzen Sippenverbandes bezahlen. Es kam bereits viele Male vor, daß eine gesamte Dorfbewohnerschaft mit 30 bis 35 Personen ermordet wurde, darunter auch Kinder, Frauen und alte Menschen. Dieses brutale Vorgehen der PKK wurde äußerst zynisch von einem offiziellen Sprecher dieser Organisation auf einer Pressekonferenz in Paris damit begründet, daß die PKK sich in einem Krieg befinde und deshalb auch Kinder getötet werden müßten, damit sie nicht später ihre Eltern rächen könnten.

Auch das Vorgehen des Militärs gegenüber den Kämpfern der PKK erfolgte nach dem Prinzip der Ausrottung, wenn diese sich nicht freiwillig ergaben.

Diesem blutigen Krieg muß so schnell wie möglich ein Ende bereitet werden, und wir glauben, daß dies möglich ist. Die Grundvoraussetzung dafür ist allerdings, daß die PKK ihre Waffen niederlegt und überzeugend dem Terror abschwört. Die türkische Regierung wiederum müßte auf diesen Schritt mit einer Generalamnestie reagieren, um der PKK nun zu ermöglichen, einem demokratisch-parlamentarischen Weg einzuschlagen und ganz legal und offen mit den anderen politischen Parteien und gesellschaftlichen Kräften in einen Dialog zu treten mit dem Ziel, eine friedliche Lösung zu finden. Ohne Tabus und Einschränkungen könnte nun über alle Fragen eines gemeinsamen friedlich-solidarischen Zusammenlebens von Kurden und Türken diskutiert werden. (...)

Schlußbemerkungen

Die Europäer und vor allem die Deutschen wissen aus eigener, zutiefst leidvoller Erfahrung, welche Verwüstungen der Nationalismus anrichten kann. Die aktuellen Fälle dieser Art in Ruanda oder Bosnien sollten uns als abschreckende Beispiele dienen. Aus der Sicht der ethnischen Minderheiten und deren Sprecher mag es Gründe und Argumente für einen eigenen Staat geben. Es bleibt jedoch eine Tatsache, daß die Ablösung aus dem alten Staatenverband nie ohne blutige und leidvolle Kriege oder Bürgerkriege einhergeht. Die Zersplitterung eines existierenden Staates mit seinen gewachsenen Bevölkerungstrukturen birgt auch später noch erheblichen Konfliktstoff für alle Beteiligten.

Während die europäischen Länder im Begriff sind, ihre nationalstaatlichen Grenzen zu Gunsten eines europäischen Unionsstaates zu überwinden, weil dies überall zu nachweislichen Verbesserungen der ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Situation führt, wie kann es da im Interesse anderer Völker liegen, sich in einander feindlich gesonnene Staaten zutrennen? In Teilen der europäischen Öffentlichkeit, vor allem bei den sogenannten „fortschrittlichen Kräften“, scheint es eine Art Mode zu sein, nach einem „Selbstbestimmungsrecht für ethnisch kulturelle Minderheiten“ zu rufen und entsprechende Bestrebungen zu unterstützen, auch wenn diese zu bewaffneten Auseinandersetzungen führen. Leider stellen sich dergleichen Forderungen nur selten als durchdacht heraus. Das durchaus beeindruckend klingende „Recht auf Selbstbestimmung“ wird dabei zum Dogma erhoben, ohne an die Folgen zu denken.

Andere Interessenvertreter aus den europäischen Staaten verfolgen immer noch eine Politik des „Teile und Herrsche“. Würde dieses Prinzip eines „Selbstbestimmungsrechts für alle ethnisch-kulturellen Minderheiten“ ernst genommen, so müßten in nahezu allen Staaten der Erde die Staatsgrenzen gemäß den Forderungen dieser Ethnien neu gezogen werden. Welche Konfliktstoffe dies mit sich brächte, können wir uns unschwer vorstellen. (...)