Den Namenlosen Namen geben

■ Die Zeitschrift "Fotogeschichte" hat Fotografien als Dokumente des Holocaust untersucht. Nicht nur ihre Entstehung, auch ihre Veröffentlichung gehorchte Interessen, deren Kenntnis manchem Bild zu neuer...

Von Harald Fricke

Nach Roland Barthes sind Fotografien Schattenwürfe des Realen, aus dem Licht gemacht, das die Objekte abstrahlen. Deshalb hat Barthes diese exakte Reproduzierbarkeit als magische Fähigkeit des Mediums mit der Auferstehung verglichen. Wer fotografiert wurde, hat nicht nur in diesem Moment existiert, sondern bleibt.

In der Zeitschrift Fotogeschichte wird das Foto dagegen weniger metaphorisch überhöht als sozialgeschichtlich gelesen. Für Timm Starl sind es gerade Fotografien, die sich vor die Erinnerung stellen, und bewirken, „daß nur mehr ein einziges Bild davon, das fotografische, bleibt“. Statt dessen versucht der in Frankfurt lebende Wiener Publizist, das Medium über die Gegensätze von Authentizität und Inszenierung zu erschließen. Wie weit kann eine Fotografie nicht bloß Wirklichkeit, sondern auch deren Kontext dokumentieren? Auch wenn ein Foto als zielgerichtetes Material entlarvt worden ist, bleibt es doch als Beleg von Geschichte gültig. Dies ist nur ein Aspekt, unter dem sich zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zwei Nummern von Fotogeschichte Fotografien als Zeugnissen für den Massenmord widmen.

Die meisten Beiträge handeln von der Schwierigkeit, die sich aus dem Doppelcharakter der Fotografie als einer zugleich Wirklichkeit konstituierenden und reflektierenden Form ergeben. Viele Bilder in den Lagern wurden ja gerade von SS-Wachmännern wie Dietrich Kamann gemacht, der eigens ein Fotoalbum über alle Bauphasen von Auschwitz anlegte. Dort erscheint das KZ als industrieller Komplex, als ideale Architektur der Neuen Sachlichkeit. Auf anderen Bildern sind Häftlinge bei der Arbeit so fotografiert, daß sie vom Stacheldraht nicht eingesperrt, sondern umgeben wirken wie von einer Landschaft.

Am Beispiel des Konzentrationslagers Dachau schildert Detlef Hoffmann, wie Fotos gezielt für NS-Kampagnen benutzt wurden. Schon im Juli 1933 erschien in der Münchner Illustrierten Presse ein großzügig bebilderter Artikel über das KZ, der die Vorzüge des Lagers lobte, „in dem Menschen zur Arbeit und zur Disziplin erzogen werden“. Dazu sieht man ausgelassene Badeszenen – der Fotograf hatte nicht Häftlinge, sondern Aufseher aufgenommen. Umgekehrt ist es drei Jahre später die Hervorhebung „nichtarischer“ Gesichtszüge auf einzelnen Portraits, mit denen „politische“ und „jüdische Volksverbrecher“ markiert werden. Die pauschalisierende Repräsentation hatte zur Folge, daß selbst Sozialdemokraten die nationalsozialistische Rhetorik der Ausgrenzung übernahmen, indem sie sich von den abgebildeten Personen distanzierten, die nicht in ihr Bild des edlen Oppositionellen paßten.

Es ist diese Abhängigkeit von Interessen, die Hoffmann entlang der erhaltenen KZ-Fotos nachzeichnet: Welche Bilder tauchen in Paris-Match auf, womit wird in englischen oder amerikanischen Zeitungen der Holocaust nach der Befreiung dokumentiert? In einem Beitrag über Lee Miller, die als US-Kriegsberichterstatterin für die Modezeitschrift Vogue die Leichenberge von Buchenwald fotografierte, stellt eine der damaligen Redakteurinnen erschüttert fest, warum nur ein einziges dieser Fotos abgebildet wurde: „Wir mußten gefühlt haben, daß das Publikum sich freuen wollte und nicht in der Stimmung für weiteres Leiden war.“

In einem zweiten Schwerpunkt beschäftigen sich Cornelia Brink und Hanno Loewy mit den 2.400 Fundfotos, die heute ein Archiv in Auschwitz bilden. Von den Aufnahmen lassen sich kaum Rückschlüsse auf die im Lager ermordeten Juden machen. Trotzdem sind sie der letzte existierende Beleg für ein Leben außerhalb des Konzentrationslagers, Erinnerungen an die Menschen, die die KZ- häftlinge draußen zurücklassen mußten. Während Bilder nach der Befreiung des Lagers auch die Anonymität der Massenvernichtung widerspiegeln, erscheint auf diesen Fotos Individualität.

Aber für Hanno Loewy verweigern auch die Bilder aus dem Häftlingsgepäck den Zugriff auf das Vergangene: „Dem Medium und seiner technisch und gesellschaftlich bedingten Zeitform, des tödlich erstarrten, austauschbar gemachten Augenblicks, steht kein Narrativ zur Seite, das Geschichte [...] als sinnvoll erlebtes Kontinuum zu retten vermag. Die Bilder, die uns die in Birkenau vergasten und verbrannten Menschen hinterlassen haben, sind abgeschnitten von [...] dem Leben, das sie hervorbrachte.

Der Wunsch nach Kontinuität und Sinnerfüllung, mit dem wir sie betrachten und hoffen, daß den Namenlosen Namen gegeben werden, daß wenigstens ein paar der Verstummten ihre Sprache wiederfinden und erzählen, was ihnen geschah, ist so radikal wie ohnmächtig. Und wir können uns diesen Bildern, anders als voyeuristisch nur nähern, wenn wir uns diesem Wunsch überlassen und zugleich unsere Ohnmacht realisieren.“ Nach Auschwitz ist Roland Barthes' Verständnis von Fotografie falsches Bewußtsein.

„Fotogeschichte“. Heft 54 und 55, 15. Jahrgang 1995, Jonas Verlag, je 35 Mark