■ Heidi Schüller über den Wahlentzug für Alte
: Der Jugend eine Chance!

taz: Ein Satz Ihres neuen Buches, „Die Alterslüge“, hat heftige Proteste ausgelöst: Man müsse auch darüber nachdenken, das aktive und passive Wahlrecht nach oben hin zu begrenzen. Ihre Lesung in Köln fand unter Polizeischutz statt. Wie beurteilen Sie die heftigen Reaktionen?

Heidi Schüller: Das Geschrei geht vor allem von Nordrhein- Westfalen aus, wo gerade Wahlkampf ist. Das Rententhema – und vor allem darum geht es in meinem Buch – ist dort für keine der Parteien opportun. Die Lesung in Köln wurde im übrigen auf Wunsch des Veranstalters geschützt – aber nicht von der Polizei, sondern von einem privaten Dienst. Bei dieser Lesung war auch Trude Unruh, die von RTL ein Mikrofon bekam, um die Veranstaltung kommentieren zu können. Andere organsierte Alte hatten Plakate dabei: „Heidi Schüller, Altenkiller“. Diese Leute haben es verweigert, mir die Hand zu geben. Mein Buch kannten sie gar nicht. Trude Unruh hat ein bißchen Randale gemacht, und Elke Heidenreich, die im Publikum war, hat ihr zugerufen: „Trude, halt die Klappe, das ist nicht dein Tag.“

Kommen wir zu Ihrem eigentlichen Thema, der Altersversorgung. Worin besteht denn die „Alterslüge“?

Die meisten Rentner wissen nicht, daß sich das System nach den Rentenformeln von 1957 entscheidend geändert hat. Seit 1957 werden die Gelder als eine Summe genommen und an die jeweilige Rentnergeneration verteilt. Das geht so lange gut, wie es genügend Erwerbstätige gibt. Das ist heute nicht mehr der Fall. Trotzdem wird dieses Problem überall verdrängt. Heutige Rentner denken immer noch, daß sie das Geld aus dem Strickstrumpf bekommen, in den sie es eingezahlt haben.

Weil sich das Rentensystem so nicht mehr finanzieren läßt, fordern Sie statt eines Umbaus gleich den Abbau sozialer Leistungen.

Man muß ehrlich sein, und deshalb sage ich: Abbau. Wenn immer weniger einzahlen und immer mehr Leistungen in Anspruch nehmen, dann muß an der vorherrschenden Anspruchshaltung gerüttelt werden.

Wie soll denn nach Ihren Vorstellungen die Finanzierung des Rentensystems aussehen?

Es geht mir nicht darum, den Beziehern von Durchschnittsrenten etwas wegzunehmen. Auch über eine kontinuierliche Erhöhung der Sozialabgaben dürfen die Leute nicht weiter belastet werden. Dafür sollten mehr Leute in Beitragszahlungen einbezogen werden: etwa Selbständige. Vor allem aber muß dieser Denkprozeß einsetzen, daß Sozialleistungen davon abhängen, was die jeweilige Generation erwirtschaftet. Also muß eine konjunkturabhängige Komponente eingebracht werden. Wenn Herr Blüm alles beim alten belassen will und sagt, die Renten seien sicher, ist das hohles Geschwätz.

Ihr Rundumschlag richtet sich auch gegen das Gesundheitswesen.

Es ist ein Irrsinn, der sich da abspielt. Um das System an einem extremen Beispiel zu illustrieren: Ein 90jähriger Patient kann darauf bestehen, daß ihm Nieren und Herz transplantiert werden – eine Leistung, die ihm zustünde. Die Krankenkassen geben in solchen Fällen bedenkenlos Hunderttausende von Mark aus – damit ein Mensch den Rest seines Lebens würdelos an Maschinen hängt. Das ist überhaupt eine gefährliche Tendenz: die Flucht in Technisierung und in medizinischen Datenmüll.

Dem anonymen „Fürsorgewahn des Staates“ setzen Sie Nachbarschaftshilfe und Solidarität entgegen.

Die großen Behörden werden versagen. So bleibt es uns überlassen, uns in kleinen Einheiten zu organisieren, sich untereinander Freundschaftsdienste zu erweisen. Es müssen auch neue Wohnformen diskutiert werden. Wohngemeinschaften alter Menschen sind ein Beispiel. Das Wichtigste aber: Alte Menschen dürfen nicht so schnell aus der gesellschaftlichen Verantwortung entlassen werden.

Wie können Sie dann eine Begrenzung des Wahlrechts nach oben fordern – wenn Sie gleichzeitig eine größere Einbindung älterer Menschen befürworten?

Lassen Sie mich das erklären. Es gibt einen ungeheuren Trend zu einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Berufsleben. Das liegt auch an einer immer perfekteren medizinischen Technik, die jedes Detail an Veränderung anzeigt, ohne daß der Betroffene auch nur einen Hauch von Beschwerden hat.

Ich habe nach dem Wahlrecht gefragt.

Kommt gleich. Wir haben einen hohen Anstieg von Berufsunfähigkeitsrenten, der 1993 bei 48 Prozent lag. Die Leute gehen also immer früher aus dem Berufsleben. Und diese Menschen meine ich, wenn ich sage, sie sollten nicht gleich aus der Verantwortung entlassen werden, sondern zum Beispiel soziale Aufgaben übernehmen, die heute von Zildienstleistenden erfüllt werden.

Kommen wir auf den Punkt.

Besonders in den großen Parteien machen sich Vergreisung und Verkalkung breit. Die Wählerschaft ist ebenfalls überaltert. Was sollen sich die Parteien dann um die Jugend kümmern? Sie bedienen natürlich ihre eigene Klientel. Unsere Demokratie hat also eine enorme Schieflage: Der Anteil der Wähler, der in Rente oder kurz davor ist, beträgt 32 Millionen. Dem stehen ganze 2,2 Millionen jugendliche Wähler von 18 bis 21 gegenüber.

Man kann Menschen aber nicht ihr Alter vorwerfen ...

... tue ich auch nicht. Ich sage nur, daß die Chancen der Jugend bei Wahlen gleich Null sind. Diese fatale Entwicklung verschärft sich – deshalb muß etwas passieren: Entweder wird das Wahlrecht nach unten auf 16 Jahre geöffnet – wie das die SPD in Niedersachsen zumindest auf kommunaler Ebene jüngst beschlossen hat –, oder man führt eine stärkere Gewichtung der Stimmen junger Familien oder junger Lebensgemeinschaften ein. Wenn das alles nicht passiert, sehe ich keine andere Möglichkeit, als über die dritte, höchst unangenehme, Variante laut nachzudenken: Altersbegrenzung nach oben.

Wie ist das zu verstehen?

Schauen Sie doch, wie die Situation in den Altenheimen ist: Die Pfleger machen die Kreuze für verwirrte Patienten. Oder: Von den großen Parteien werden Alte zu den Wahllokalen gekarrt, und die wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Ich habe ja nicht gesagt: Die Alten sollen nicht mehr wählen. Ich habe nur in Frage gestellt, daß ein 98jähriger Alzheimer-Patient das nötige Bewußtsein für eine Wahlbeteiligung haben kann. Und deshalb, wegen eines Satzes, diese Hetzkampagne? Ich lasse mich nicht einschüchtern. Ich werde auch die nächste Lesung abhalten, selbst wenn jemand damit drohen sollte, mir Salzsäure ins Gesicht zu kippen. Interview: Wolfgang Farkas

Heidi Schüller, „Die Alterslüge“. Rowohlt Berlin, 1995