„Lamerica“ ist ein Science-fiction

■ Ein Gespräch mit Gianni Amelio über Kalabriens Verwandtschaft mit Albanien

taz: „Lamerica“ ist ein Film über das Chaos in Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, aber auch über die Arroganz des Westens. Die Hauptfigur, Gino, ist ein Italiener. Warum haben Sie diese Perspektive gewählt?

Gianni Amelio:Ich hätte es nie gewagt, Albanien mit den Augen eines Albaners zu sehen. Das wäre sehr unehrlich und anmaßend gewesen. Ich habe es aber auch nicht mit Ginos Augen, sondern von einem dritten Blickwinkel aus gesehen. Als ich das erste Mal dort ankam, kam ich mir vor wie im Italien meiner Kindheit. Süditalien war am Ende des Krieges sehr arm, und die Leute hatten ein großes Bedürfnis nach Zukunft, nach einer Perspektive. Aber die konnte Italien ihnen nicht bieten. Deshalb gab es nicht nur die interne Emigration von Süd- nach Norditalien, sondern auch den viel größeren Sprung von Süditalien nach Amerika. Das war bis Ende der fünfziger Jahre so, in den Sechzigern ging man dann nach Deutschland oder in die Schweiz. Deshalb gibt es im Film die Figur des Spiro, der glaubt, kurz nach Kriegsende in Italien zu sein, während er durch das heutige Albanien reist. Ich wollte auf diese Weise den jungen arroganten Italienern eine Lektion erteilen, denen, die keine historische Erinnerung mehr haben und nicht wissen, woher ihr heutiger Wohlstand stammt.

Waren Sie böse auf Ihren Vater, der mit 18 auswanderte und Sie und Ihre 17jährige Mutter verließ?

Sehr böse. Ich habe mich erst mit ihm versöhnt, als er im Sterben lag, und da war es zu spät. Als Kind habe ich ihn gehaßt, weil ich glaubte, daß er etwas hätte, was ich nicht hatte, nämlich Reichtum. Erst jetzt weiß ich, daß er gelitten hat, daß er nicht reich war, und daß er sein Amerika nie gefunden hat.

Sie haben Ihre Heimat, ein kleines Dorf in Kalabrien, ebenfalls verlassen und gingen nach Rom. Welche Erfahrung machten Sie mit dem Weggehen?

Meine Reise von Kalabrien nach Rom war viel einfacher. Ich ging nach Rom, um zu leben, nicht um zu überleben. Es war ein Privileg, ein Luxus. Der Respekt vor dem Leid und dem Trauma wirklicher Emigranten verbietet es mir, mich selbst einen Emigranten zu nennen. Das wäre eine Beleidigung meinem Vater gegenüber.

Sie sagten, „Lamerica“ sei auch ein Science-fiction. Was meinten Sie damit?

Der Film ist, wie gesagt, eine Odyssee durch die Zeit. Zwei Protagonisten reisen zusammen durch ein Land, von dem wir wissen, daß es das Albanien der neunziger Jahre ist. Aber einer der beiden, Spiro, sagt: Nein, wir sind im Italien der vierziger Jahre. Vielleicht hat er ja ebenfalls recht. Der alte Spiro ist ein Alien, er hat keine Heimat, kein Alter, er sagt, er sei zwanzig. Er ist jemand, der nicht an der Wirklichkeit teilhat. Die Rationalisten können sagen, Spiro ist verrückt. Ich sage, vielleicht ist er nicht verrückt, wer weiß.

Wie war es, einen so aufwendigen Film in Albanien zu drehen?

Es gab zwei Arten von Problemen. Zum einen technische, die normal sind für ein Land, in dem es praktisch keine Filmindustrie gibt. Es sind bizarre Dinge passiert. Wir wollten zum Beispiel an einem kleinen Bahnhof drehen. Als wir eine Woche später anfangen wollten, war der Bahnhof rosa angestrichen. So war es ständig. Klar, wenn jemand zu Besuch kommt – und ein Foto von dir machen will –, machst du dich fein. Sie haben sogar einen Zug hellblau angemalt, weil sie glaubten, es sei schöner so.

Gab es Schwierigkeiten mit Drehgenehmigungen?

Ja, für die Schlußszene. Die Behörden fürchteten, wenn ein Regisseur 3.000 Albaner auf einem Schiff versammelt, zücken die Statisten ihre Messer und kapern das Schiff, um damit wirklich nach Italien zu fahren. Das war gar keine so abwegige Vorstellung, sie hatten ja Grund genug. Das war die zweite große Schwierigkeit: einen Film zu machen, der mit Problemen und Bedürfnissen in Berührung kommt, die viel wichtiger sind als ein Film. Ich habe „Lamerica“ deshalb mit großer Unruhe und großer Scham gedreht. Wenn ich fünfzig Statisten brauchte, kamen 150. Die Frauen brachten ihre Kinder mit, alte Männer ihre uralten Väter. In diesem Film gibt es so viele Menschen, nicht weil ich es wollte, sondern weil sie kamen. Sie waren da und gingen nicht mehr. Ich habe für den Schluß einen halben Tag lang die Nahaufnahmen der Gesichter auf dem Schiff gedreht, weil die Menschen dort mich bei den Dreharbeiten genauso anschauten, und ich wußte, ich bin ein Privilegierter, und ihre Dramen sind viel, viel größer als meine.

Was denken Sie, wie wird es in Albanien weitergehen?

Das Land ändert sich in einer rasenden Geschwindigkeit. Es befindet sich in einem Stadium der Euphorie. Die Amerikaner kamen und bauten in zwei Monaten bei Tirana eine Colafabrik. Jetzt ist Coca-Cola das albanische Nationalgetränk, und alle zehn Meter, auch auf dem Land, gibt es eine Bar. Vielleicht wird sich die albanische Wirtschaft auf diese Weise schnell entwickeln, wird Tourismus anziehen und Clubs Méditerranées eröffnen, aber der Zusammenprall der Kulturen ist zu hart. Das stärkste Bild dafür ist das Mädchen in „Lamerica“, das tanzt, so wie es Tänze aus dem italienischen Fernsehen kennt. Da sieht man den Schock. Albanien wird seinen Wohlstand um den Preis seiner eigenen Tradition bezahlen.

Über „Gestohlene Kinder“ sagten Sie einmal, er enthalte die Utopie einer anderen Liebe in einer zynischen, gleichgültigen Gesellschaft. Haben Sie auch eine Utopie in „Lamerica“?

„Gestohlene Kinder“, das war die Utopie einer anderen Familie, Antonio wurde für den kleinen Jungen zum Vater. „Lamerica“ enthält eine viel gewagtere Utopie. Heute, an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, sind es keine einzelnen Individuen mehr, die auswandern, sondern ganze Völker. Und die Flüchtlingsströme werden sich weiter vervielfachen, denn die Kluft wird immer größer. Aber diese Völkerwanderungen ermöglichen vielleicht eine Vermischung der Kulturen, ein neues Bewußtsein. Sie erlauben mir, neues Wissen, neue Talente, neue Gefühle kennenzulernen und umgekehrt. Wenn bei uns in Italien oder in Deutschland die Menschen aus Osteuropa und Afrika ankommen, müssen wir uns darüber freuen.

Interview: Christiane Peitz