Leben im Asphaltdschungel von Bogotá

Obdachlose und ihre Welt in der kolumbianischen Hauptstadt / Nachts machen maskierte Mordkommandos Jagd auf Bettler und Straßenkinder / Ein ungewöhnliches Theaterprojekt  ■ Aus Bogotá Katrin Meyer

„Wissen Sie, wie man klaut? – Ach, was wissen Sie schon! Ich will es Ihnen erklären. Der „Patient“ läuft also nichtsahnend die Straße entlang. Da stellt sich ihm die Nummer Eins in den Weg, streckt ihm die Hand entgegen und bettelt herzerweichend. ,Ham Sie ein paar Pesos?‘ Nummer Zwei und Nummer Drei schleichen von hinten heran. Nummer Zwei reißt ihm die Sonnenbrille von den Augen. Nummer Drei greift nach der Brieftasche im Jackett. Schon ist der Spuk vorbei. 100.000 Pesos sind die Beute.“

Es ist schon eine merkwürdige Truppe, die in dem bis auf den letzten Platz besetzten Theatersaal das Lehrstück vom Leben im Asphaltdschungel der kolumbianischen Hauptstadt präsentiert. Die Schauspieler wissen, wovon sie reden. Es sind Erwachsene und Jugendliche von der Straße, neros, wie die Obdachlosen in Bogotá heißen. Brücken und Plätze, Bürgersteige und die Kanalisation sind ihr Zuhause. In der Innenstadt sieht man sie gar an jeder Straßenecke. Sie schlagen sich als Bettler und Müllsammler, als Straßendiebe und Zigarettenverkäufer durch.

Auf der Bühne entsteht nun ihre Welt: Sie erzählen von korrupten Polizisten, die von den Straßendieben abkassieren. Davon, wie sie mit dem Messer um den angestammten Schlafplatz kämpfen. Von denen, die Klebstoff schnüffeln, um Hunger und Kälte zu vergessen. Und von der nächtlichen Angst vor Polizeiknüppeln und maskierten Mordkommandos.

Patricia Ariza und Rafael Giraldo, Schauspieler der international bekannten Theatertruppe „La Candelaria“, wagten das ungewöhnliche Experiment. Sie bauen auf über 20 Jahre Erfahrung in der Theaterarbeit mit sozialen Randgruppen. Im Sommer vergangenen Jahres organisierten sie in Bogotá ein Festival der Straße, bei dem neben Obdachlosen und Rap-Combos aus den Armenvierteln im Süden der Stadt auch Laiengruppen von Transvestiten und Prostituierten auftraten. Daneben fanden Lesungen mit Dichtern von der Straße statt. Bekannte Maler wie Pedro Alcántara gestalteten gemeinsam mit Obdachlosen im Stadtzentrum riesige Wandbilder. Finanziert wurde das Programm durch den Kulturfonds der Vereinten Nationen.

Patricia Ariza, die mit den Obdachlosen „Träume von der Straße“ inszenierte, empfand es als Bereicherung, mit den Menschen zu arbeiten, um die sie selbst oft einen Bogen gemacht hatte. Die Gestalten von der Straße faszinierten die Schauspieler vom „Teatro de la Candelaria“ derart, daß die Gruppe ein Stück mit Obdachlosen als Darsteller inszenierte: eine stark verfremdete Bearbeitung von Garcia Márquez' „Chronik eines angekündigten Todes“. Noch vor einigen Wochen war die Gruppe mit dem Programm in Deutschland auf Tournee.

Das Theaterspiel, so Patricia Ariza, habe den Ausgegrenzten Selbstbewußtsein vermittelt und etwas von ihrer Würde zurückgegeben. Die Protagonisten von der Straße sahen dies nach mehr als 30 Vorstellungen ähnlich.

„Das Theater ist das Beste, was mir im letzten halben Jahr passiert ist“, meint Javier, der auf der Bühne das Opfer des Überfalls mimte. Und Mariza, eine junge Frau, der ein paar Zähne fehlen, beschreibt die Erfahrung so: „Man entdeckt, was man sein könnte.“

Die Grenzen des Experiments, so Patricia Ariza selbstkritisch, lagen in der zu knappen Finanzierung und in fehlender begleitender sozialer Betreuung. „Das konnte nicht gut gehen. Eben noch standen die neros im Rampenlicht, wurden begeistert gefeiert, und dann, nach Ende der Vorstellung, mußten sie ihre Decke nehmen und einen Schlafplatz an irgendeiner Straßenecke suchen.“ Inzwischen hat sich die Truppe wieder in alle Winde zerstreut.

Manuel Contreras Hernández schläft noch, eingehüllt in eine graue Decke, als wir am Morgen auf einem kleinen Platz im Zentrum Bogotás mit ihm reden wollen. Er gähnt, streckt sich und erzählt dann mit leuchtenden Augen, wie er im Theater „Jorge Elecier Gaitán“ seine Freunde von der Straße auf der Bühne sah. „Einige von ihnen“, meint er, „haben es durch das Projekt geschafft, von der Straße wegzukommen. Sie haben sich von der Gage einen Verkaufsstand gekauft und verdienen nun so ihr Geld. Andere haben durch ein kirchliches Projekt eine feste Bleibe bekommen. Doch manchen“, erzählt er, „geht es heute schlechter als vorher. Die sind völlig zugedröhnt mit Drogen.“ Das Theaterprojekt, an dem Patricia Ariza jetzt mit Jugendlichen aus einem Armenviertel arbeitet, wird deshalb von Sozialarbeitern durch ein begleitendes Programm zur Berufsausbildung begleitet.

Wieviele Menschen in Bogotá auf der Straße leben, kann niemand sagen. Zwischen 5.000 und 20.000 Obdachlose soll es in der kolumbianischen Hauptstadt geben. Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen in ländlichen Regionen, Modernisierungsprozesse in der Landwirtschaft und die Industrialisierung ließen die kolumbianischen Städte in den vergangenen Jahrzehnten rasch wachsen. Dort stürzten Strukturanpassungsprogramme und die Wirtschaftskrise in den 80er Jahren noch mehr Menschen ins Elend. Die Zahl der Obdachlosen, Bettler, Prostituierten und Straßenkinder nahm zu. Die Kriminalität stieg an. Taschendiebstahl, Raubüberfälle und Einbrüche mehrten sich.

Verstädterung und Verarmung führten außerdem zur Auflösung traditioneller Familienstrukturen. In den Slums im Süden Bogotás ziehen immer mehr alleinstehende Frauen ihre Kinder groß. Tagsüber arbeiten sie als Haushaltshilfen in den Wohnungen der Bessergestellten. Ihren eigenen Nachwuchs sperren sie zu Hause ein, denn Kindergärten gibt es in den Armenvierteln viel zu wenig. Manche der völlig überlasteten Mütter, Väter oder Stiefväter mißhandeln die Kinder, die dann auf die Straße fliehen.

So wie Manuel Contreras, der sich inzwischen in seiner grauen Decke aufgesetzt hat. Er lief mit zehn Jahren von zu Hause fort. An den Handgelenken hatten sie ihn zu Hause am Dachbalken aufgehängt und geschlagen. Seit 20 Jahren lebt er nun auf der Straße. Anfangs schlug er sich mit kleinen Diebstählen durch. „Jetzt macht mein Herz so etwas nicht mehr mit“, versichert er mit müdem Blick. So bettelt er nach dem Aufstehen in einem Restaurant nach Essensresten. Danach versucht er sein Glück bei Passanten auf der Straße. Ein- bis zweimal pro Woche geht er in eines der offenen kirchlichen Programme für Obdachlose, duscht sich dort und wäscht seine Kleider. Ab und zu raucht er Marihuana, „um ruhig zu werden und um das Leben schneller rumzukriegen“. Klebstoff schnüffelt er nicht, auch das Rauchen von Bazuko (Rohkokain) kommt für ihn nicht in Frage. Überhaupt hält er sich fast für was Besseres als seine Kollegen.

Das Stehlen ließ Manuel auch aus Angst: Seit mit den Reformen der kolumbianischen Strafprozeßordnung in den Jahren 1980 und 1985 Straftäter bei weniger schwerwiegenden Delikten schnell wieder aus dem Gefängnis freikommen, herrscht bei Polizei und Geschäftsleuten die Meinung vor: „Dieser Abschaum ist besser tot als in den Händen eines Richters, der die Leute nach wenigen Tagen wieder laufen läßt.“ Seitdem gibt es in Kolumbien die sogenannten „sozialen Säuberungen“: Kriminelle, Drogenhändler, Süchtige, Obdachlose, Prostituierte, Straßenkinder und alle, die man dafür hält, werden gezielt ermordet. 2.947 dieser Verbrechen wurden zwischen 1986 und 1993 in Kolumbien dokumentiert. In der Hauptstadt gab es zwischen 1988 und 1993 allein 183 Opfer „sozialer Säuberungen“, darunter 15 Kinder. Die Dunkelziffer liegt aber noch höher.

Deshalb hat Manuel Contreras sein Lager weit weg vom Parque de los Martires und der Calle del Cartucho aufgeschlagen, wo Straßenräuber, Drogenhändler, Müllsammler und Obdachlose zu Hause sind. Von „seinem“ Platz in einem eleganten Geschäftsviertel der kolumbianischen Hauptstadt vertreiben ihn zwar hin und wieder Polizisten mit Stockhieben, aber er bleibt hier und verteidigt seinen eleganten Schlafplatz gegen andere Obdachlose – im Notfall sogar mit der Machete.

Seit ein paar Monaten ist der Kampf ums Überleben in den heruntergekommenen Straßen nämlich härter geworden. Vor den Geschäften der breiten Einkaufsstraße patrouillieren seit einiger Zeit Männer in schwarzer Uniform mit scharfen Wachhunden. Sie sollen Diebe und Obdachlose vertreiben, die solvente Kunden vom Kauf abschrecken. Manuel ist davon überzeugt, daß diese Wachmänner nachts Jagd auf sie machen. „Die kaufen sich von ihrem Lohn Revolver, und wenn sie abends ihre Uniformen ausgezogen haben, verdienen sie sich damit etwas dazu. Die haben schon einen von uns auf dem Gewissen“, fährt er fort. „In der letzten Woche bat ein Kollege von uns in einem Restaurant der Geschäftsstraße um Essen. Da hetzten die Wachleute die Hunde auf ihn. Ein Tier biß ihn in die Schlagader, und da war es vorbei für ihn.“

Auch die Menschenrechtsorganisation America's Watch macht in verschiedenen Fällen Geschäftsleute für die Verbrechen an sozial Schwachen verantwortlich. So wurden im August 1993 am Parque de los Martires, dem Treffpunkt für Straßenkinder und Obdachlose, mit Kreuzen verzierte Plakate geklebt, die zu einer „Beerdigung“ einluden: „Industrielle, Geschäftsleute, Bürgerverbände und Bewohner von Los Martires laden alle Bürger zur Beerdigung der Verbrecher ein, die in diesem Teil der Hauptstadt ihr Unwesen treiben. Die Feier beginnt heute und wird so lange dauern, bis es sie nicht mehr gibt.“ Einige Wochen zuvor hatte eine Delegation aus Kaufleuten, Beamten und Rechtsanwälten die Gemeindeverwaltung besucht und mit Selbstjustiz gedroht, wenn gegen die „Kriminellen“ nichts unternommen werde. Eine Woche später wurde ein Straßenkind aus einem fahrenden Auto erschossen.

Auch Polizisten und Mitarbeiter der Geheimdienste F-2 und DAS sollen, so ergaben Untersuchungen des Forschungsinstituts der Jesuiten CINEP, an den „sozialen Säuberungen“ beteiligt sein. Manuel Contreras ist fest davon überzeugt, daß unter anderem Polizisten für die Verbrechen verantwortlich sind.

Einen Bekannten von der Straße, der eines Tages „verschwand“, suchte er zunächst im Gerichtsmedizinischen Institut, dann auf dem Berg am Rande Bogotás, auf dem die weiße Schutzpatronin der Stadt, die Jungfrau von Guadelupe, thront. Dort oben, nicht weit von der Polizeistation, fand er seinen Bekannten als halb verweste Leiche.

Plötzlich regt sich Contreras' Freund, der eben noch schlafend neben ihm am Boden lag. „Doch, doch“, sagt er aufgeregt. „Das macht die Polizei. Dort oben gibt es eine kleine Schlucht. Das ist der ,Schlachthof der Polizei‘.“ Er selbst, erzählt der Mann weiter, sei von der Polizei vor einigen Wochen auf der Straße aufgegriffen und und mit dem Auto in die Berge gebracht worden. Oben in der Polizeistation mußte er sich bis auf die Unterhose ausziehen. Dann sagten ihm die Polizisten, er könne jetzt weglaufen. Da er nichts Gutes ahnte, blickte er sich nach den ersten Schritten um und sah, wie ein Polizist mit dem Revolver auf ihn zielte. So schlug er einen Haken, rannte in den Wald am Wegrand und konnte den Kugeln entkommen.

Für solche Taten werden Polizeibeamte in Kolumbien nur in seltenen Fällen zur Verantwortung gezogen. Denn diese Art von Vergehen sind in dem südamerikanischen Land keiner unabhängigen zivilen Justiz, sondern der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Diese aber protegiert die Täter aus den eigenen Reihen. So bleiben die Verbrechen an den sozial Schwachen ungesühnt. 92,9 Prozent aller Fälle „sozialer Säuberungen“ wurden 1993 nicht aufgeklärt.

Auch dieses Drama der Straße brachten die neros von „La Candelaria“ in ihrem Stück auf die Bühne. In der letzten Szene liegt ein menschlicher Körper, bedeckt mit einem schwarzen Plastikbeutel, auf der Bühne. Darüber ein Schild: „Wer wird der nächste sein?“