■ Überlegungen zur Außenpolitik Oskar Lafontaines
: Ausklinken, oder was?

Wir können noch von Glück sagen, daß sich von unseren neun sozialdemokratischen Ministerpräsidenten zur Zeit nur einer zum Außenminister der Republik berufen fühlt. Oskar Lafontaine liest uns Außenpolitikern im Bundestag Woche um Woche die Leviten. Da ich echte Bewunderung für den und großen Respekt vor dem Ministerpräsidenten hege, mache ich mich immer wieder neugierig und ehrerbietig auf die Suche nach den kleinen Brosamen, die für uns Azubis der Außenpolitik vielleicht vom Tische des Klugen und Weisen zu fallen geruhen. Was will uns unser Genius loci sagen?

1. „Wir müssen anknüpfen an eine Außenpolitik, die verbunden ist mit dem Wort Frieden und Entspannung, die verbunden ist mit dem Namen Willy Brandts.“ Wer könnte da widersprechen. Dreimal ja. Das will jeder. Nur, was heißt Entspannungspolitik nach 1989? Wie sieht es aus in einer Epoche, die weit stärker vom Gegensatz Terror gegen Zivilität geprägt ist als vom alten Muster Krieg gegen Frieden. Wie macht man Entspannungspolitik gegenüber dem Terror der algerischen Fundamentalisten? Wie gegen die mörderische Vertreibungsenergie der Karadžić-Truppen? Was heißt Entspannungspolitik in einer Zeit, da ethnische Vertreibung wieder zum Mittel der politischen Planung mitten in Europa geworden ist? Oskar Lafontaine hat bisher an keinem Punkt erkennen lassen, daß er die veränderten Rahmenbedingungen deutscher und europäischer Außenpolitik erkannt oder anerkannt hätte. Entspannungspolitik?

2. Der Kalte Krieg, seine Form der aufrüstenden Spannung war der Rahmen für die Entspannungspolitik Willy Brandts und Egon Bahrs. Zwei Vorgänge kennzeichnen dessen Beginn: die Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis durch Atombomben und der Koreakrieg ohne Atombomben. Zwei „Abschreckungen“ mit lang andauernder globaler Wirkung. Denn aus beiden ist ein fast vierzigjähriger Status quo entstanden.

Entspannung. Es gab die amerikanische Kissinger-Variante und die deutsche Bahr/Brandt-Variante. Sie waren nicht immer deckungsgleich, mündeten aber im Laufe der siebziger Jahre in eine gemeinsame Politik. So wurde Entspannung zur logischen Konsequenz des atomaren Patts, nachdem sich die „Eindämmung“ (containment), die Logik der Amerikaner, die am Anfang immer noch an ihren atomaren technischen Vorsprung glaubten, ad absurdum geführt hatte.

Die Friedensbewegung der achtziger Jahre – gelegentlich saß ich neben Oskar in Mutlangen – hatte unausgesprochen im Grundsatz das atomare Patt akzeptiert und damit die von Hiroshima ausgehende Abschreckbarkeit des atomaren Gegners. Wogegen wir uns damals wandten, war die schier endlos scheinende (auch atomare) Aufrüstungsspirale, die immer wieder Wahnvorstellungen begünstigte, die den Krieg „wieder führbar“ hätten machen können. Der Rüstungswettlauf erzeugte mehr und mehr „Stellvertreterkriege“. Die Hochrüstung der zwei Weltmächte bewirkte ein schier unendliches Wachstum der Rüstungsproduktion und des „Secondhand- Exports“.

3. Der Status quo im atomaren Patt hatte aber noch etwas anderes bewirkt: die scheinbare Stabilität der ideologisch kompakten starken Staaten. Wenn wir heute sagen, ohne Brandt kein Helsinki, ohne Helsinki keine Solidarność, ohne Solidarność kein Gorbatschow, ohne Gorbatschow kein Fall der Mauer, dann sind wir stolz. Wenn wir aber sagen: Seit Gorbatschow sind die „Staaten in Osteuropa auch deshalb immer schwächer geworden, weil sie keine Diktaturen mehr sind“, dann bricht bei manchen der Angstschweiß aus.

4. Was aber heißt Entspannung heute? Bisher haben wir weit mehr Fragen als Antworten, aber mit Freunden, die so weise sind, daß sie gar keine Fragen mehr stellen, sondern nur Antworten von gestern geben, ist nicht leicht Politik zu entwickeln. Einige (nicht alle) Fragen habe ich denn doch: Aus dem Kalten Krieg der stabilen Staaten sind wir gestürzt in die heißen Konflikte instabiler Staaten, mit all den Radikalisierungsrisiken des „schwachen Staates“. Es gibt keinen „globalen Spannungszustand“ mehr.

Es gibt tausend kleine Konflikte, gegen die es bisher keine Abschreckungserfahrung und keine Abschreckungsstrategie gibt. Unsere Hoffnung, die labilen politischen Führungen (mit ständig wechselndem Personal) durch Entwicklungshilfe, durch traditionelle Friedenszusammenarbeit in rationale Stabilität und Abrüstung zu locken, ist überlebenswichtig, reicht aber leider nicht aus. Sie muß unterstützt werden können durch eine Drohkulisse, durch Stoppschilder. Karlsruhe hat uns Deutschen endlich die Möglichkeit gegeben, auch einmal konkret nein zu sagen, wenn die Partner – wie im Fall Somalia – ihr teures Stoppschild so dilettantisch aufbauen. Wer aber statt konkreter Entscheidungen, die jetzt möglich sind, weiterhin prinzipiell nein sagt, ein für allemal, der wird am Aufbau eines solchen Drohpotentials gegen kriegsbereite Führungen sich gar nicht beteiligen. Auf Dauer wird das eine schwere Hypothek für uns – wenn außerhalb der Nato dies immer nur die anderen leisten sollen.

Wir sollen, so Lafontaine, „neutral“ zu Milošević sein. Was heißt denn das? Mit den Franzosen? Mit den Amerikanern? Allein? Mit realpolitischem Zynismus ließe sich darüber diskutieren, ob wir Vertreibungsterror, religiöse Apartheid und Bantustan in Europa akzeptieren. Aber Realpolitik erzwingt auch einige reale Fragen, wenn Vertreibung wieder akzeptiert wird: Wer siedelt wo und mit welchen Mitteln auf Dauer Millionen neue Vertriebene an? Wem soll die Rechnung präsentiert werden?

Zugegeben – wir haben bisher keine wirksame übernationale polizeiliche Drohkulisse gegen ethnische Vertreibungen apokalyptischer Größenordnung. Blauhelme konnten bisher nur mangelhaft stabilisieren. Auf dem Balkan sind wir an ihnen nicht beteiligt. Es ist ein Skandal, daß sie hingeschickt wurden, ohne eine technische und logistische Planung des Abzugs. Je besser eine solche Planung, um so größer die Garantie ihres gemeinsamen Verbleibs. Und daran – so will es die Regierung des Saarlandes – dürften wir uns nicht beteiligen, denn das bedeutete ja „Kriegseinsatz“. Also Ausklinken?

5. Wie sieht „Entspannungspolitik“ aus gegenüber Staaten, mit denen wir durch nach Millionen zählende Minderheiten fest verknüpft sind? Zwei Millionen Türken in Deutschland, anderthalb Millionen Nordafrikaner in Frankreich verändern die Beziehungsmuster zu deren Herkunftsländern fundamental. Wie sieht „Entspannungspolitik“ gegenüber den algerischen Fundamentalisten, wie gegenüber der PKK aus? Und wie gegenüber der türkischen oder algerischen Regierung? Und wer holt im Ernstfall die von uns im Bundestag längst geforderten und von Lafontaine erneut vorgeschlagenen unbewaffneten „Grünhelme“ heraus? Wieder die anderen? Freimut Duve

SPDler und im Auswärtigen Ausschuß

des Bundestages