Ost-Kicker ohne Kohle

Im Osten Deutschlands wird der Fußball zum Nischensport  ■ Von Dirk Peters

Falk war der einzige, der damals geheult hat. „Zwanzig Jahre Ordner beim Klub“, schluckt er schwer, „und dann so was!“ Der Hallesche FC, den die Treuesten der Treuen noch immer hartnäckig und unbeirrbar „Chemie“ nennen, obwohl er mangels Chemie seit längerem schon nicht mehr so heißen mag, hatte sich gerade mit einem schäbigen 1:2 gegen Rot-Weiß Erfurt aus dem deutschen Profifußballgeschäft verabschiedet. Und Sachsen-Anhalt, Heimat nicht nur des dreimaligen UEFA-Cup-Teilnehmers HFC, sondern auch die des einstigen Europacup-Gewinners 1. FC Magdeburg, wurde mit dem Abstieg seiner letzten hauptberuflich kickenden Elf in die sportliche Bedeutungslosigkeit des neubundesländischen Amateurlagers zum fußballerischen Niemandsland.

Der Niedergang des Sports aber, der trotz stetem Hader mit medaillengeilen Sportfürsten und ungeachtet medialer Konkurrenz durch den Überbruder Bundesliga bis vor wenigen Jahren auch östlich der Elbelinie Wochenende für Wochenende Zehntausende in die Stadien lockte, geht weit über Halle und Magdeburg hinaus. Wie Sachsen-Anhalt ist auch Brandenburg vier Jahre nach dem vermeintlich zukunftsträchtigen Aufstieg Stahl Brandenburgs in die zweite Bundesliga fußballerische Wüste. Das „Stahl-Feuer“, von dem Funkreporter Marian Homrichhausen zu verträumten Oberligazeiten in allerhöchsten Tönen zu schwärmen pflegte, verlosch; die Ränge und Kassen verlassen, die besten Spieler im Westen. Letztes Jahr mußte Stahl aus Geldmangel allen seinen Spielern kündigen. Danach war nichts mehr mit dem Aufstieg. Oder Thüringen: Rot- Weiß Erfurt, damals, Ende der letzten Oberliga-Saison, noch Tabellendritter, tritt heute nur noch in der vierten Klasse den Ball. Und auch Carl Zeiss Jena, der mehrmalige DDR-Pokalsieger, wurde nach unten durchgereicht und spielt inzwischen in der drittklassigen Regionalliga.

Einzig in Sachsen scheint die Welt in Ordnung: Dresden in der ersten, Leipzig, Zwickau und Chemnitz in der zweiten Liga, was willst du mehr? Doch statt 25.000 bis 30.000 Zuschauern, die Dynamo Dresden einst im Bruderkampf gegen den verhaßten BFC Dynamo anfeuerten, kommen heute für gewöhnlich noch 10.000. „Und das nur, wenn die Sonne scheint“, wie die Dresdner Fußball-Legende Walter Fritzsch abwinkt. Noch schlimmer ist die Situation beim VfB Leipzig, der schon unter dem alten Namen FC Lokomotive das zwar erfolgreichste, jedoch auch ungeliebteste Fußballteam der Stadt war. Am Leben gehalten nur durch die Zuwendungen des millionenschweren Immobilienmaklers Axtmann, spielte die Mannschaft selbst während des einjährigen Gastauftritts in der ersten Bundesliga regelmäßig vor einer Geisterkulisse.

Fünf Jahre nach dem Ende der letzten Amateur-Saison ist der Fußball im Osten auf dem Wege, zum Nischensport zu werden. Überall quittierten die Fans die endlose Kette aus Pleiten, Pech und Pannen, indem sie nicht mehr zuschauen. Obwohl die Ostvereine vorsichtshalber von Anfang an mit bescheidenen Besucherzahlen planten, wurden selbst die schlimmsten Erwartungen noch übertroffen. Nicht mehr 18.000 wie zu Hochzeiten, nicht mehr 11.000 wie zuletzt, ja, nicht einmal mehr magere 3.500, sondern gerade mal noch dreieinhalb Dutzend Fans sind in Halle der Normalfall. Auch nebenan, beim einstigen Europacupsieger im hauptstädtischen Magdeburg, spielt man vor einer Kulisse, vor der Bayern Münchens Kicker das Training verweigern würden. „Dem Fußball im Osten fehlt die Wurzel, und das ist nun mal Publikum“, analysiert Hans- Georg Moldenhauer, seinerzeit Torsteher in Magdeburg und heute Chef des Nordostdeutschen Fußballverbandes, „deshalb kracht hier alles zusammen.“

Ähnliches hatte Rostocks damaliger Trainer Uwe Reinders schon im Frühjahr 1991 geahnt: „Wenn das so weitergeht, ist der Ostfußball in drei Jahren tot“, prophezeite der erste Westtrainer im Osten. Heute scheint es, als sollte er recht behalten: Von 14 Mannschaften, die ehedem die letzte DDR-Meisterschaft ausspielten, sind gegenwärtig noch ganze fünf im Geschäft. Und auch für die sieht die Zukunft nicht gerade rosig aus. In der ersten Liga steht Dresden wie immer kurz vor dem Abstieg, in der zweiten gurken Chemnitz, Leipzig und Zwickau gegen den Untergang. In Rostock, wo man sich mit dem einstigen DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel einen Politprofi als Präsidenten holte, sprach man zum Jahreswechsel unter der Hand schon mal das magische Wort Aufstieg aus. Unterdessen ist die Normalität wieder eingekehrt: Irgendwo fehlt Geld, irgendwer streitet mit irgendwem.

Während die Liga in den alten Bundesländern boomt wie nie zuvor, nagt der Osten am fußballerischem Hungertuch: Weil die Wirtschaft nicht läuft, hat keiner Geld für Sport; weil kein Geld da ist, kommt keine Leistung; weil keine Leistung kommt, kommen keine Fans; weil keine Fans kommen, ist kein Geld da. Bernd Bransch, bei der WM 1974 DDR-Nationalmannschaftskapitän, hat es früh auf den Punkt gebracht: „Die Leute, die wir brauchen, können wir nicht bezahlen, und die, die wir bezahlen können, können wir nicht gebrauchen.“

Die besten Ostspieler kicken sowieso schon lange im Westen. Der Dresdner Sammer in Dortmund, der Hallenser Wosz bei Bochum, der Erfurter Vogel bei Duisburg, der Chemnitzer Steinmann bei Köln. Dazu Doll, Thom, Bonan, Fuchs, Kirsten, Karl, Reich, Tretschok. Obwohl sich die DDR- Oberliga stets als „Amateurliga“ beschimpfen lassen mußte – heute treten rund 70 Ostspieler bei Westvereinen den Ball. Und die Abwanderung, die einen Grund für den Niedergang der einstigen Massenkultur Fußball im Osten beschreibt, geht weiter. Längst kaufen die Fußballkonzerne mit Ausbildungsplätzen, Talentverträgen und Stellenangeboten schon Spieler aus den Jugendmannschaften auf – obwohl Osttrainer, Verbandsfunktionäre und Vereinspräsidenten nicht damit aufhören, „Maßnahmen“ zu fordern, um das Ausbluten des Fußballs im Osten zu verhindern. Mehr als der „Goldene Plan“, der ein Plan blieb, fiel den Funktionären nicht ein.

Der Anschluß der dampfkesselbetriebenen Halbamateur-Ost- Oberliga an die Milliarden umsetzende „beste Liga der Welt“ ging gründlich daneben. „Der Fußball ist ja nun mal nicht aus der gesamtgesellschaftlichen Situation herauszulösen“, meint Hans-Georg Moldenhauer, der fest überzeugt ist, „wir hätten nicht anders handeln können.“ Nicht anders als in der plötzlich freien Wirtschaft fehlte es den blutigen Oberliga- Amateuren an allen Startvoraussetzungen: An Geld, an Erfahrung, an tauglichen Stadien. Fälle wie der HFC, der die Trikotbrüste seiner Spieler im ersten Anlauf an eine Schwindelfirma verpachtete und nie einen Pfennig Geld dafür sah, dann zu einer anderen Firma wechselte, die wenig später in Konkurs ging, waren eher die Regel denn Ausnahme.

Vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung: Der Hallesche Fußballklub, vor drei Jahren noch deutscher Europapokalvertreter, meldete Ende Februar Konkurs an. 1,3 Millionen Mark Schulden hat der Anfang der fünfziger Jahre gegründete Verein, keine richtige Mannschaft mehr und schon länger als ein Jahr keinen Sponsor. Präsident ist der Geschäftsführer eines Hauptgläubigers – nur das hielt den Laden überhaupt so lange am Laufen. Das Geld, das direkt nach der Wende für Spieler wie Wosz, Tretschok und Steffen Karl kam, ist ausgegeben, neue Finanzquellen sind nicht in Sicht. Als letzte Rettung war schon in der vorigen Saison allen Spielern gekündigt worden – es half nichts. Jetzt tritt die Juniorenmannschaft für die Männer an, und im Kreise der 18jährigen läßt sich auch der 40jährige Ex-DDR-Nationalspieler Dieter Strotzniak jedes Wochenende wieder gern irgendwo verhauen. Einmal haben sie schon ein Unentschieden herausgeholt. Irgendwie, denkt der Sportsmann, der im Sommer endgültig Schluß machen will, „können wir die Saison nur noch in Würde zu Ende spielen.“ Nur woher die 20.000 Mark kommen sollen, die monatlich für Mannschaftsbusse, Mieten und andere Kosten gebraucht werden, weiß derzeit keiner. Eine Sammlung unter den Fans brachte bisher ganze 900 Mark.

„Wenn der DFB nicht bald irgend etwas tut, geht auf die Art der gesamte Ostfußball vor die Hunde“, glaubt der eigenbrötlerische Dynamo-Alleinherrscher Otto. Die Mannschaften der früheren DDR-Oberliga seien nur noch „schreiende, notleidende, kriechende, kaputte Vereine“, die sich aus eigener Kraft nicht mehr retten könnten. Doch Ost-Fußballchef Hans-Georg Moldenhauer, von Otto zuletzt nur noch als „feiger Ja-Sager“ bezeichnet, mag nicht so schwarz malen. Nun sei ja eine gewisse „Heimatverbundenheit“ wieder im Kommen, lugt der „Steigbügelhalter“ (Otto) nach Lichtblicken am finsteren ostdeutschen Fußballfirmament. Altmark Stendal mit seinem „breiten Sponsorenpool“ sei ein Beispiel dafür, wie man es richtig hätte machen müssen: „Aber alle wollten ja nur oben mitspielen, statt erst mal zu überlegen, wie sie ihren Klub nach unten stabilisieren.“ Stendal hat als einzige sachsen-anhaltinische Mannschaft den Sprung in die halbprofessionelle Ost- Regionalliga, die fast zur Hälfte aus wirtschaftlich potenten Berliner Clubs besteht, geschafft. Der Verein aus der Altmark ist wirtschaftlich gesund. Die Mannschaft ist stabil. Stendal hat alles richtig gemacht. „Da stimmt die Identifikation der Region mit ihrer Mannschaft“, lobt Moldenhauer. Letzte Saison ist die Mannschaft aufgestiegen. Danach kamen im Durchschnitt 1.400 Zuschauer. Dieses Jahr steigt Stendal wieder ab.