„Ich liebe Deutschland“

Grigorij Orlov war zwei Jahre in Auschwitz. Er flüchtete. Und kehrte als Befreier zurück. Heute sucht der 77ährige Asyl in Deutschland. Vergebens.  ■ Von Michaela Schießl

Grigorij Orlov war 25 Jahre alt, als er die Asche zum ersten Mal sah. Unglaublich viel Asche, die sich beim Krematorium Auschwitz türmte. Gleich neben dem Hügel aus Frauenhaar. Auf einer alten Decke lagen dunkle Zöpfe, blonde Locken, braune Strähnen. Haare der Frauen, die gerade in die Gaskammer geführt worden waren. Grigorij Orlov durfte nicht schaudern, nicht trauern, nicht einmal genau hinschauen durfte er. Häftling Nummer 64908 hatte zu spuren. Er gehörte zum Elektrokommando und war an jenem Tag abkommandiert, um eine defekte Leitung am Krematorium zu reparieren.

Später sah er die Asche wieder. In der Stadt Oświęcim, wo er die Kabel in einem Rohbau legen mußte. Ein Freudenhaus sollte es werden, für junge SS-Offiziere. Da kam ein Lkw aus dem Lager auf den Hof gefahren, beladen mit der Asche verbrannter Menschenkörper. Sie wurde dem Beton zugesetzt

Grigorij Orlov hat Glück gehabt. Er durfte leben, weil er jung war und kräftig, als ihn die Nazis im September 1942 in Lublin gefangennahmen. Der russische Soldat kam als politischer Gefangener nach Auschwitz. Das Arbeitskommando, dem er zugeteilt wurde, übernachtete gelegentlich außerhalb des Hauptlagers – außerhalb der Elektrozäune. Den Entschluß zur Flucht faßte er, nachdem er ein Strafkommando überlebt hatte. „Beim zweiten Mal, das wußte ich, geh' ich kaputt.“

Zum ersten Mal kam Orlov zum Strafkommando, weil er und ein Jude heimlich Johannisbeeren pflücken wollten, im Garten eines Offiziershauses. Ein Aufseher, selbst ein Häftling, erwischte die beiden. Den Juden schlug er sofort nieder, Orlov wehrte sich: „Ich erlaube dir nicht, mich zu schlagen“, rief er und kletterte auf einen Strommasten. Ein SS-Mann eilte hinzu und warf Steine auf Orlov, bis er runterkam. „Der SS-Mann trat mir in die Leisten, schlug mich wie ein Tier zusammen und befahl dem Aufseher: Meldung machen. Was hieß: Strafkolonie.“

Wäre er nicht geflohen, hätten sie ihn ein zweites Mal dorthin geschickt. Ein Aufseher erwischte ihn, als er in Birkenau seinen polnischen Freund traf. „Mein Freund wollte auch flüchten. Er sagte: Grigorij, ich will nicht mehr bleiben. Ich sterbe hier. Ich sagte: Dann müssen wir weglaufen. Er sagte: Gut.“ Drei Tage lang hatten die beiden bereits gehungert und sich ihre Brotration, 200 Gramm pro Tag, aufgespart. Der Aufseher entdeckte das Brot unter Orlovs Kittel, zerrte es heraus, warf es auf den Boden. „Das habe ich von SS-Offizieren bekommen, fürs Schuheputzen“, log der Russe. Doch der Aufseher „schrieb sich meine Nummer auf. Ich wußte: Wenn er sich die Nummer aufschreibt, komm' ich ins Straflager.“

In jener Aprilnacht im Jahre 1944 flüchteten Grigorij Orlov und sein Freund Tscheskow Mondschik.

Sie zwängten sich, als der Abend dämmerte, unter eine Barracke, in den schmalen Spalt zwischen Erde und Fußboden. „Es war furchtbar eng und eiskalt, wir lagen im Schmelzwasser. Was gut war, denn so konnten uns die Hunde nicht riechen.“ Später, als die Sirenen längst abgeschaltet waren und die Suchkommandos aufgegeben hatten, robbten die beiden Männer bis zum nahe gelegenen Wald. Von da an liefen sie nur noch nachts, tagsüber versteckten sie sich. „Wir hatten Hunger. Doch Hunger war besser als Auschwitz.“ Ab und zu erbettelte Mondschik, der Pole, ein bißchen Brot von seinen Landsleuten. „Er sagte: Grigorij, ich werde immer bei dir bleiben.“ Doch von Tag zu Tag wurde er unruhiger. „Nach vier Tagen sagte er: Grigorij, ich muß zu meiner Mutter. Ich sagte: Nein, komm mit mir, nach Osten. Er sagte: Grigorij, ich muß gehen. Ich sagte: Gut.“ Die beiden Freunde verabschiedeten sich. Neun Monate später, im Dezember, wurde Mondschik von den Faschisten aufgegriffen und erschossen.

Orlov wanderte in Richtung Osten. Er schloß sich zunächst den polnischen, dann den russischen Partisanen an, bis er schließlich wieder zur Armee stieß. Und zurückkehrte, an die Stätte des Schreckens: Als Soldat der 336. Division der 60. Armee nahm er an der Befreiung von Auschwitz teil. Seine Gefühle kann er nicht schildern. „Es gibt keine Worte dafür.“

Heute, 50 Jahre später, hat Grigorij Orlov wieder mit den Deutschen zu tun. Die Bundesrepublik Deutschland hat am 24. August 1994 das Asylbegehren des 77jährigen abgelehnt: „Die Inhaftierung in Auschwitz am Ende des 2. Weltkrieges steht nicht im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Ausreise.“

Was korrekt ist. Völlig korrekt.

Nein, sagt Orlov, er sei nicht böse auf die Deutschen. Im Gegenteil: „Ich habe immer unterschieden zwischen den Deutschen und den Nazis. Auschwitz war die SS. Die Deutschen sind ein gutes Volk“, sagt er und lächelt, wenn er in die ungläubigen, fast unwilligen Gesichter seiner Zuhörer schaut, die ihn in Berlin trafen, anläßlich der Feierlichkeiten zur 50jährigen Befreiung von Auschwitz. „Aber jetzt“, wird er gefragt, „jetzt müssen Sie doch stocksauer sein, ausgerechnet Sie, der Deutschland mit befreit hat und nun nicht geduldet wird in diesem Land.“ „Oh ja, ich werte das als imhumanen Akt“, sagt Orlov. „Aber die, die mich wegschicken wollen, das sind doch bloß ein paar Bürokraten. Ich glaube, viele Deutsche wollen nicht, daß ich weg muß. Ich hoffe das. Ich finde so viele, die mir helfen, warum soll ich böse sein auf euch Deutsche?“

Im Mai vergangenen Jahres war Grigorij Orlov mit einem Transitvisum für Frankreich nach Deutschland eingereist, drei Tage später beantragte er Asyl. Er möchte den Rest seines Lebens in Deutschland verbringen, ohne Angst und in Ruhe. In Moldawien, wo Orlov lebte, fühlte er sich zunehmend verfolgt. „Dort findet eine Rumänisierung statt, die Russen sind die Feindbilder, sie werden gehaßt und verfolgt, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken geschlossen.“ Er nahm die moldawische Staatsbürgerschaft an, um sich das Leben zu erleichtern, aber es nützte nichts. Von Telefonterror und eingetretenen Haustüren berichtet der alte Mann, nachdem er bei einem Frankreich-Besuch ein unliebsames Interview gegeben habe. Einmal wurde er von der rumänischen Miliz geschlagen, als er russische Demonstranten unterstützte.

Das reicht nicht, sagt das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge: „Unter diesem Druck der Regierung leiden alle Staatsbürger seines Herkunftslandes, denen das Recht der freien Persönlichkeitsentfaltung etwas bedeutet.“ Aus der Anhörung des Bewerbers ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine begründete Furcht vor Verfolgung. Mit einem Satz: „Nach dem oben festgestelten Sachverhalt ist der Antrag auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des Paragraphen 51 Ausländergesetz daher abzulehnen.“ Grigorij Orlov, der im thüringschen Weilrode ein Zimmer im Asylbewerberheim bewohnt, will es nicht glauben. „Ich liebe Deutschland, es ist das Land von Hegel und Kant, Schiller und Goethe, Bach und Beethoven.“ Er hält Deutschland für ein „fortschrittliches Land, in dem die Prinzipien des Humanismus eine entscheidende Rolle spielen“, schreibt er in seinem Einspruch, der nun dem Verwaltungsgericht Weimar vorliegt. Unter dem Aktenzeichen 5K21471/94.We werden deutsche Richter entscheiden, wie man mit dem ehemalgen KZ- Häftling Nummer 64908 umgehen wird. Und sie werden ihn ausweisen müssen, den Gesetzen folgend, die Politiker gemacht haben.

Für Grigorij Orlov bleibt nur eine Hoffnung: Paragraph 30 des Ausländergesetzes. Der besagt, daß man einem Ausländer aus humanitären Gründen einen Daueraufenthalt gewähren kann. Ein Weg, den seine Unterstützer nun fordern: Die „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V.“ hat sich, ebenso wie das „Internationale Auschwitz-Komitee“ an den thüringischen Ministerpräsident Bernhard Vogel gewandt mit der Bitte, ein Bleiberecht für Orlov zu ermöglichen. Bis heute warten sie auf Antwort. Anders als Lothar Eberhard. Der Berliner, Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen, hat sich in der Sache Orlov privat an Bundespräsident Herzog gewandt, nachdem er dessen Weihnachtsansprache vernommen hatte: „Bei Ihren Worten ,Menschen, die Zuflucht gefunden haben‘, fiel mir das Schicksal von Herrn Grigorij Orlov ein. Ich bitte Sie, alles in Ihren Möglichkeiten stehende zu tun, daß dieser alte Herr eine ,Zuflucht‘ in unserem Lande findet.“

Doch die Möglichkeiten eines Bundespräsidenten sind dürftiger als Bürger Eberhardt ahnte. Zu sehr ist der Mann damit beschäftigt, dem deutschen Soldaten den Blauhelm aufzusetzen, als daß er sich Einzelschicksalen widmen könnte. So ließ er von einer Mitarbeiterin antworten, daß er verfassungsrechtlich leider zu nichts berechtigt sei, weder zur Einflußnahme auf das Bundesamt noch auf die Justiz. Auch dürfe er, sorry, keine Aufenthaltsgenehmigungen erteilen.

Was korrekt ist, völlig korrekt.

Doch einen Hauch von Humanismus, eine Prise Menschlichkeit sollte dann doch nicht fehlen im entmutigenden Brief. „Um Ihnen in der von hier aus möglichen Weise behilflich zu sein, ist aber veranlaßt worden, daß Ihr Brief an das hessische Ministerium des Inneren mit der Bitte um Prüfung weitergeleitet wurde, ob es für Herrn Orlov eine Möglichkeit gibt, in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben.“

Schade nur, daß nicht Hessen, sondern Thüringen zuständig ist für das Schicksal von Grigorij Orlov. Hat halt viel zu tun, der Herr Bundespräsident. Aber vielleicht findet sich in Thüringen ein Beamter, der Zeit hat, den Einspruch von Herrn Orlov an das Verwaltungsgericht Weimar zu lesen. Einer, der eine Gänsehaut bekommt, wenn er liest, was der Auschwitz-Häftling Nummer 64908 an die Nachkommen seiner Peiniger „mit Hochachtung“ schreibt: „Ich hoffe, daß Deutschland mir gegenüber heute Nachsicht übt.“