■ Deutschland ist immer noch ein Land der Regierung
: Das Elend der Opposition

Die Zukunft der Opposition in Deutschland ist düster geworden. Das hängt mit den WählerInnen und mit den Parteien zusammen. Ende 1993 sagten die WählerInnen, sie wollten einen Machtwechsel. Ein paar Monate später waren viele von ihnen schon mit der Aussicht auf eine gute Konjunktur bestechbar. Wer das als die Lehre des Wahljahres 94 festhält, muß der nicht Reformpolitiker für Traumtänzer halten?

Oder liegt die Schwäche bei den Parteien, welche die WählerInnen mit einem Reformprojekt unter Druck setzen und zur Entscheidung zwingen müssen: Status quo (samt Korrekturen) oder Umbau von Staat und Gesellschaft? Ein solches gemeinsames Reformprojekt der Oppositionsparteien wird es vor Wahlen nicht geben. Die größte Oppositionspartei, die SPD, will sie wirklich ihre Stimmen maximieren (das hieße unter anderem, sich nicht zu weit von den Bündnisgrünen zu entfernen), oder will sie sich vor allem die Hintertür für das Mitregieren offenhalten (das heißt, sich nicht zu weit von der CDU entfernen?)

Das Elend der Opposition ist Ergebnis schwer veränderbarer Rahmenbedingungen, es ist aber auch selbstverschuldet.

(1) Deutschland ist immer noch ein Land der Regierung, nicht der Opposition. Der Föderalismus eröffnet zwar neuen Parteien auf mittlerer Ebene Einstiegschancen, die großen Parteien aber drängt er in Richtung Kooperation. Die sozialdemokratische Bundestags-Opposition und die SPD-Mehrheit im Bundesrat vereinigen sich eben nicht zur Großen Opposition. Die beiden Großparteien arbeiten spätestens im Vermittlungsausschuß als Große Koalition zusammen. Mitregieren oder Vorwurf der Obstruktion – die SPD mußte sich nie zur Beratung zurückziehen wie die CSU in Sonthofen.

Die politische Kultur ist immer noch Output-orientiert und konfliktscheu. In Deutschland wird zwischen Opposition und Regierung eine Zwischenetappe geschoben: Bewährung in der Regierung als Juniorpartner – unter Aufsicht einer ordnungshütenden, von Sentimentalitäten freien Regierungspartei. Für die SPD führte der Weg zur ersten Kanzlerschaft über die Große Koalition von 1966. Dies ist der verschwiegene, aber in der Generation von Scharping und Schröder fortwirkende, positive Mythos einer Großen Koalition. Das Treppchen zum Erfolg.

Und dann gibt es noch die Quasi-Opposition in der Koalitionsregierung: Sie absorbiert einige Aufmerksamkeit, gelegentlich Erwartungen, die sonst der offiziellen Opposition zugute kommen könnten. Sie inszeniert sich wie eine Opposition, mit der Prämie erhöhter Medien-Aufmerksamkeit, weil die Machtfrage immer mitläuft (bleiben sie zusammen?).

Die Rahmenbedingungen sind auch deshalb schwieriger geworden, weil die Kulisse wechselt. Die Wahlbeteiligung bei den „Nebenwahlen“ in Ländern und Kommunen liegt erheblich unter dem Niveau der Bundestagswahl, dies führt zu anderen Ergebnissen. Praktisch finden zwei Diskurse statt: der dreieinhalbjährige Diskurs der Nebenwahlen und der halbjährige Diskurs der Hauptwahl. Früher erhielt die Bonner Oppositionspartei immer Aufwind in den Nebenwahlen. Heute kommt es zu Verzerrungen, die die Konkurrenz zwischen den Oppositionsparteien noch verstärken. Die SPD wird von entfremdeten Wählermilieus im Stich gelassen, die sich äußerstenfalls bei der Bundestagswahl wieder sehen lassen. Bündnisgrüne und PDS scheinen stärker, als sie sind. Die FDP wird abgeschrieben, obwohl sie nur dreieinhalb Jahre pausiert. Wüstenblume, die sie ist, richtet sie sich erst im warmen Regen des nächsten Bonner Wahlkampfs wieder auf.

(2) Die Oppositionskonkurrenz ist ein Handicap, wenn sie einhergeht mit der Unfähigkeit, die Opposition zu konzertieren, den WählerInnen eine „Regierung im Wartestand“ anzubieten. Die gespaltene SPD, die ratlosen Grünen, die blockierte PDS – jeder mit sich selbst beschäftigt, keine Lokomotive, die den Zug in Bewegung brächte.

Die Unfähigkeit der Minimalpartei SPD, für ein Reformprojekt zu mobilisieren, wirkt auf die Gesamtopposition zurück. Die Sozialdemokraten ließen vor der Wahl alle wichtigen Fragen offen. Inzwischen rätselt man auch über die Bündnisgrünen: Stehen sie für Rot-Grün, Schwarz-Grün oder – ganz minimalistisch – nur für sich selbst? Die PDS will mit Linkspopulismus ins Spiel, egal wie.

(3) Die Schwäche der Opposition ist zunächst ein deutsches Problem, die Strukturschwäche der Linken in den neunziger Jahren aber ein westeuropäisches Phänomen. Drei Ursachen sind auffällig:

– Die Heterogenität der Linken. In der BRD gibt es zwei Linke (eine traditionalistische und eine links-libertär-ökologische) und, zusammen mit der PDS, drei linke Parteien. Jede der beiden Linken stellt anderthalb Parteien (die Hälfte kommt jeweils von der SPD).

– Die „materialistische“ Agenda. Vorrangige Themen der neunziger Jahre sind eine Domäne der Strukturkonservativen: Wachstum und Sparen, Sicherheit und Außenpolitik.

– Der Mangel an Ausstrahlung. Diskursschwäche, Projektdefizit, Bewegungsflaute – mit der Beliebigkeit der Opposition und der „Zerstreuungs“-Struktur der Medien wächst auch die Beliebigkeit von Unternehmungen, selbst wenn sie, wie beispielsweise der sozial- ökologische Umbau, eine große, langfristige Herausforderung und Aufgabe sein könnten.

(4) Womit also müssen wir rechnen?

– Mit Umverteilungs- und Ausscheidungskämpfen auf der Linken. Konzentration und Konzertierung schließen sich aus. Die CDU interveniert in die verschärfte Oppositionskonkurrenz: durch Verbotsschilder für die PDS und durch Billigangebote für Schwarz-Grün.

– Mit dem Fehlen eines Reformprojekts, hinter dem die Opposition und eine gesellschaftliche Mobilisierung stünden. Reform wird situativ und reaktiv sein, nicht mehr langfristig und aktiv.

– Mit einer neuen Phase der Politikverdrossenheit. Das Auseinanderdriften von Gesellschaft, Parteien und Staat wird den Diskurs der Nebenwahlen bestimmen, bis er – vielleicht 1998 – auch auf die Hauptwahl übergreift. Von der Blockierung des Parteiensystems wird das nächste Mal wohl nicht eine neue, niedliche „Statt Partei“ profitieren, eher schon der traditionelle Profiteur von Blockaden: der rechte Radikalismus. Als einziger ist er heute auf der Bühne der Parteien nicht vertreten, aber es gibt das Publikum, das seinem Wiederauftritt applaudieren würde.

Das Textbuch hat die Neue Rechte schon geschrieben. Joachim Raschke

Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg