So schnell wie möglich

■ Was kommt nach Lenin, Che Guevara und Castro? Sexshop-Pop statt Schmelztiegel-Art: Junge Kunst aus Lateinamerika im Haus der Kulturen der Welt.

Es hört sich an wie Madonna. Aus der Ecke oberhalb des schwarz abgehängten Durchgangs kiekst eine babydollhafte Stimme zu Housebeats, als der Rhythmus leiser wird, juchzt sie freudig. Dann wird es verlegen still: Die Argentinierin Kuki Benski hat im Haus der Kulturen der Welt ein Kabinett rot schwelender Heiligenschreine mit Stahl überarbeitet und pornographisch ausgestaltet. An einer Wand sind hinter Vergrößerungsgläsern winzige Fotos drapiert, die abwechselnd religiöse Szenen, biblische Textbrocken und Betty Page im SM-Look oder an Ketten gelegte Männer zeigen.

Für eine zweite Installation ist das ganze von Benski noch zugespitzter vermischt worden: Dort lächelt Ilona Staller, topless und mit Blumenkranz, dem Bild des Gekreuzigten zu, daneben findet sich etwa ein nacktes Kinderpärchen, von Pierre & Gilles fotografiert. Zwischen all den Erotika-Ikonen sind Kerzen zerschmolzen, ihre milchigen Wachsspuren haben Flecken auf dem roten Samt hinterlassen. Ein Kamerateam hüpft zur Eröffnung im Halbdunkel umher und kann sich nicht entscheiden, wo es zuerst filmen soll.

Alfons Hug, der die Konzeption der Ausstellung „Junge Kunst aus Lateinamerika“ übernommen hat, versucht die Konfrontation von Sexshop und katholischer Kirche zu schlichten. Für ihn ist die Kombination sakraler Motive mit Allerweltsbegierden zunächst befremdlich, „aber interessant“. Dabei hat gerade das europäische Christentum seine Wurzeln in der Ausschweifung, nicht nur theoretisch als Modell bei George Bataille, sondern überhaupt in der Darstellung moderner Kunst, ob in Filmen von Luis Buñuel, auf Picassos Stier-Bildern oder im sektiererischen Happening Otto Mühls.

Die wenig sublime Unmittelbarkeit, mit der Benski und andere das Thema umsetzen, ist eine Reaktion auf beides: die Zwangstaufe durch spanische Kolonialherren und den Umgang mit zeitgenössischer westlicher Kunst. Lateinamerika, so scheint es, hat daraus gelernt. „Das Mädchen und die Frau bewegen sich zwischen Heiligkeit und Perversion. Dieser Zwiespalt ist kein Widerspruch, er ist Gewißheit“, schreibt Julio Sánchez in einem knappen Katalogtext über Kuki Benski. Diese Art Double-bind sagt auch einiges aus über die Beziehung Europas zu den Ländern, denen man zunächst den Status der Dritten Welt aufgeprägt hat, um ihn jetzt allmählich multikulturell zu dekonstruieren.

Die beiden Ausstellungen, aus denen die Schau im HKW zusammengestellt wurde, sind allgemein anerkannt: Sowohl die junge Biennale in Havanna als auch die São Paulos mit ihrer über vierzigjährigen Geschichte zählen im internationalen Betrieb. Auf Initiative Peter Ludwigs, des deutschen Sammlermultis, wurde die Havanna- Biennale 1994 vom Aachener Ludwig-Forum übernommen. Auch Jan Hoet hatte zum documenta- Spektakel Lateinamerika und Afrika auf der Suche nach Neuen Wilden durchforstet, und die kommende documenta-Macherin Catherine David strebt für ihr politisch korrektes Projekt die Auflösung des Zentrums zugunsten der Ränder an. Daß man beide Kontrahenten im April für die Fachtagung „Das Marco Polo Syndrom“ als Podiumsgäste gewonnen hat, wird von den Leitern der Berliner Ausstellung als lohnender Beitrag zur veränderten kulturellen Situation gewertet.

Die lateinamerikanischen Künstler zeigen sich von solch vorbeugender Diskussion wenig beeindruckt: „Da es masochistisch ist, sich diesem Markt grundsätzlich verweigern zu wollen, sollte man einmal darüber reden, wie Künstler des ,Südens‘ Nutzen aus der Korrumption ziehen könnten, ohne sich tatsächlich korrumpieren zu lassen“, so Luis Camnitzer in einem von Gerhard Haupt zitierten Beitrag zur Havanna-Biennale. Dieser Gedanke spiegelt sich in der Arbeit von Juan Fernando Herrán aus Kolumbien wider.

Auf einem wandfüllenden Diagramm hat er die günstigsten Winde eingezeichnet, mit denen man – „so schnell wie möglich“ – den Nord-Ost-Passatwind erreichen kann, „so kommt man in die Karibik“. Mit einer Boje, die er im Ärmelkanal ausgesetzt hat, wurde die Reise bereits durchgespielt. Und im Foyer hängt eine Foto-Installation des venezolanischen Künstlers Paolo Gasparini, die neben der verstümmelten Leiche Zapatas eine Montage zeigt, auf der das Auktionshaus Sotheby's ein Schlachtenstilleben mit Sichel, Patronengurt und Gitarre versteigert.

1951 initiiert, fand die Biennale von São Paulo fünf Jahre vor der ersten documenta statt. Inzwischen steht der Veranstaltung ein großzügiger weißer Museumsbau zur Verfügung, der dem New Yorker Guggenheim-Museum nachempfunden ist, wie auch die Hauptstadt Brasilia Anfang der sechziger Jahre nahezu komplett im Stil der Architektur Le Corbusiers konstruiert wurde. Die Moderne, von deren ästhetischen Standards aus man auf die Entwicklungen an der Peripherie blickt, ist dort längst angekommen.

Während sich Adriana Varejao mit zerfetzten Körperbildern und der Argentinier Luis Freistav (Bulgaro) in räudigen Trash-Straßenköter-Inszenierungen am internen sozialen Gefälle und der Kriminalität als Folge des Schwellenland- Kapitalismus abarbeiten, sucht man auf Kuba Wege zur Revolutionsbewältigung: Was kommt nach Lenin, Che Guevara und Castro?

Bei Alexis Leyvas „La Regata“ (1994) sind es Floße, die fliehen. Aus Hausschlapfen, Pappschachteln und Müll hat er an die hundert Miniaturboote gebastelt, die alle in eine Fahrtrichtung zeigen und zusammen ein Zeichen-Schiff ergeben, das vielleicht vier Familien tragen könnte.

Daß diese Arbeit in Havanna zu sehen war, als der Exodus nach Florida einsetzte, schlägt sich in unterschiedlichen Lesarten nieder. Was in Aachen als sozialer Eingriff und Mut zur Dissidenz interpretiert wurde, ist in der Auslegung des kubanischen Kritikers Antonio Elgio ebenso an den Westen adressiert: „Dieses Mal eine Geschichte ohne Schiffbrüchige, ohne Küstenwache; Geschichte, die sich auf den Abfall konzentriert, beredtes Dokument einer Überfahrt.“ Auf Kuba stechen Leyvas Boote symbolisch in See, an der italienischen Küste werden albanische Flüchtlingsschiffe real abgewiesen. Harald Fricke

Bis 5. 6. im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee