Sprünge und Brüche am Arbeitsmarkt Schule

■ Die Zahl der Schüler steigt im Westen und sinkt im Osten / Trotz Lehrerbedarfs wird in Berlin abgespeckt / Studienräte sind nicht gefragt / Nur 30 Prozent der Lehramtsstudenten schaffen den...

Auf dem Arbeitsmarkt Schule wird es in den nächsten zehn Jahren turbulent zugehen: „Sprünge und Brüche“ prophezeit Gisela Wilsdorf-Selka von der Freien Universität Berlin (FU) den Lehramtsstudenten für ihre berufliche Zukunft. „Im Schuljahr 1992/93 wurden in Berlin 471 Lehramtsabsolventen eingestellt, aber nur 271 beendeten 1990/91 ihre Ausbildung.“ In den nächsten beiden Jahren würden jeweils 1.000 neue Lehrer in der Hauptstadt gebraucht, warnt sie.

In Westdeutschland ist der Bedarf sogar noch größer. Die Situation ist dort anders, weil die Entwicklungen in beiden Teilen Deutschlands genau entgegengesetzt verlaufen. Einem Anstieg der Schülerzahl in Westberlin um etwa 10.000, der der Entwicklung in den alten Ländern entspricht, steht ein rückläufiger Trend im Osten der Stadt gegenüber. Wilsdorf-Selka: „Nach einem kurzfristigen Lehrermangel wird der Bedarf bis zum Jahre 2005 rückläufig sein.“ Trotzdem würden, so die Fachfrau, mehr Lehrer – und somit auch mehr entsprechende Studienplätze – benötigt, als die Prognose der Senatsverwaltung für Schule und Sport vom März 1994 angebe.

„In dieser Bedarfsprognose werden keine Zuzüge eingeplant, die infolge der Hauptstadtfunktion eintreten könnten“, kritisiert Wilsdorf-Selka. „Außerdem wird das Absinken der Geburtenzahlen im Osten wie ein dauerhafter Verzicht auf Kinder behandelt und nicht als Ausdruck eines zeitlichen Aufschubs des Kinderwunschs.“ Schließlich sei in einigen Jahren ein überproportionaler Anstieg der Geburten im Osten denkbar. Auch Brigitte Reich, Berlins stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), hält die Bedarfsprognose der Senatsverwaltung für unzureichend: „Die derzeitige Situation wird einfach in die Zukunft projiziert, ohne dabei mögliche Veränderungen zu berücksichtigen.“

Entsprechend rigide sehen die Sparvorschläge der Senatsverwaltung für Forschung und Wissenschaft im Bereich Lehrerbildung aus: Die Ausstattung mit Professuren soll im Bereich Grundschulpädagogik von heute 24 auf 20 im Jahre 2003 reduziert werden. Im gleichen Zeitraum sollen die Professuren für Erziehungs- und Sozialwissenschaften von 83 auf 62 verringert werden. Allein an der Technischen Universität Berlin steht laut Senat die ersatzlose Streichung der Ausbildung für das Amt des Lehrers auf dem Programm. Die AG der für Lehrerbildung zuständigen VizepräsidentInnen der vier größten Berliner Universitäten hat die Strukturvorschläge „mit Befremden zur Kenntnis genommen“. Die Vertreter der Unis wollen das Angebot an Studienplätzen von der Nachfrage entkoppeln und schlagen eine Erneuerungsrate von drei bis vier Prozent als Berechnungsgrundlage vor. Das wären jährlich zwischwen 500 und 1.200 neue Lehrer in Berlin.

„Diese Kürzungen gehen am eigentlichen Problem vorbei“, kritisiert Reich: „Da die Erfolgsquote an den Westberliner Universitäten bei nur 30 Prozent liegt, kann von einer Lehrerschwemme aus den Hochschulen keine Rede sein.“ Die GEW-Chefin mahnt statt dessen effizientere Studien- und Prüfungsordnungen an, um den Anteil erfolgreicher Abschlüsse zu erhöhen. Da viele Lehrkräfte bereits im Alter von etwa 58 Jahren aus ihrem Beruf ausscheiden, ist Nachwuchs aus den Unis nach wie vor gefragt. „Es ist auch für die Schüler besser, wenn sie verstärkt von jüngeren Lehrern unterrichtet werden“, argumentiert Reich. Doch auch die Altersstruktur der Berliner Lehrerschaft ist unausgeglichen. Während das Durchschnittsalter in den westlichen Bezirken bei über 44 Jahren liegt, ist es in der anderen Stadthälfte rund fünf Jahre geringer.

„Auch wenn der Bedarf an Lehrern in Berlin geringer ist als in Westdeutschland, lohnt sich ein Lehramtsstudium allemal“, betont Wilsdorf-Selka. Entscheidend sei jedoch die „Qualifikationsstruktur“. Das heißt: Auf den richtigen Abschluß und die richtigen Fächer kommt es an. Der rückläufige Bedarf an Studienräten zum Beispiel setzt bereits 1995 ein und wird sich bis zum Jahr 2005 kontinuierlich fortsetzen. Sonder- und Berufsschulen hingegen hätten sich rückblickend als „sichere“ Lehrämter erwiesen, so die FU-Fachfrau. Hier hat die Zahl der Einstellungen die der 1. Staatsprüfungen in den letzten Jahren übertroffen.

Was die Fächerauswahl angeht, lohnt sich ein Blick auf die aktuelle Stellensituation ebenfalls: Mit Deutsch, Geschichte oder Erdkunde ist im Bereich der Sekundarstufe II (Oberstufe) mit mehr Konkurrenz zu rechnen als bei Englisch oder Mathematik. In den Klassen fünf bis zehn ist der Bedarf darüber hinaus auch bei Physik und Chemie noch nicht gedeckt. Wilsdorf-Selka rät: „Wer ein Lehramtsstudium aufnimmt und bezüglich der Fächer noch unschlüssig ist, sollte bei seiner Entscheidung diese Disparitäten zur Kenntnis nehmen.“

Wegen der langen Ausbildungsdauer bis zum 2. Staatsexamen und der vielen Unsicherheitsfaktoren, mit denen Prognosen für diesen Zeitraum behaftet sind, räumt sie jedoch ein, daß verläßliche Empfehlungen nicht gegeben werden können. Lars Klaaßen