US-Team: Erster Aids-Toter hatte kein Aids

■ US-britischer Wissenschaftlerstreit um einen 1959 verstorbenen Engländer

Dublin (taz) – War der erste Aids-Fall der Welt gar keiner? US- Wissenschaftler wollen jetzt herausgefunden haben, daß HIV-infizierte Gewebeproben, die angeblich von dem 1959 im Alter von 25 Jahren verstorbenen David Carr stammten, in Wirklichkeit erst 1990 einem Patienten entnommen wurden. Das US-amerikanische Team unter Leitung von David Ho, dem Direktor des renommierten Aids Research Center in New York, geht davon aus, daß die Proben versehentlich – was höchst unwahrscheinlich ist – oder absichtlich vertauscht wurden. Carr, ein englischer Druckerlehrling, war 1959 an einer damals unbekannten Krankheit gestorben, die mehr als dreißig Jahre später von Gerald Corbitt und Andrew Bailey, zwei Wissenschaftlern an der Universität Manchester, als Aids identifiziert wurde.

Der „Patient Null“, wie Carr fortan hieß, stieß weltweit auf immenses Interesse, weil man sich von ihm Aufschlüsse über den Ursprung der Krankheit erhoffte.

Als der US-Forscher Ho vor zwei Jahren die gereinigte DNS – den „genetischen Fingerabdruck“ des Virus – analysierte, die man ihm aus Manchester geschickt hatte, stieß er auf einen HIV-Typus, der 1990 weit verbreitet war. Aufgrund der Geschwindigkeit, mit der der Virus mutiert, schloß Ho aus, daß er bereits 1959 in dieser Form existiert haben könnte. Das New Yorker Aids Research Center forderte deshalb Gewebeproben von Carrs Leichnam an, um das britische Experiment zu wiederholen. Obwohl er in den vergangenen 14 Monaten eine intensive Versuchsreihe anlegte, gelang es Ho nicht, das HIV-Virus in Carrs Gewebe nachzuweisen.

Ho sagte daraufhin vorgestern abend, daß der inzwischen pensionierte Pathologe der Universität Manchester, George Williams, diese Diskrepanz erklären müsse. „Die Frage ist, was mit den beiden Gewebeproben passiert ist“, sagte Ho, „sie stammen jedenfalls von zwei verschiedenen Personen. Williams ist der einzige, der diese Frage beantworten kann.“ Ho geht davon aus, daß Corbitt und Bailey ebenfalls auf falsche Gewebeproben hereingefallen seien.

Williams wies die Verdächtigungen zurück. „Ich bin felsenfest von der Echtheit der Proben überzeugt“, sagte er gestern. „Wir sollten Ho bitten, das Experiment mit neuen Proben zu wiederholen oder es anderswo in Auftrag zu geben.“ Ralf Sotscheck