Hobbys: Lesen und Fußball

89.000 Häppchen und 36.000 Flaschen Sekt – die Leipziger Buchmesse behauptet sich abseits des Geschäfts durch Pflege der Gemütlichkeit und ostdeutscher Schriftsteller  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Die Kollegin in der heimischen Redaktion begehrte nach Fakten, Hardware, wichtigen Dingen. Also: Die Leipziger Buchmesse boomt oder „brummt“, wie wir unter Verlegern so sagen oder zumindest Herr Haffmans: 1.334 Aussteller – 463 mehr als im Vorjahr – waren vom 23. bis zum 26. März in den Messehäusern am Markt vertreten. 69 beteiligten sich an der zeitgleich im Untergrund stattfindenden 1. Leipziger Antiquariatsmesse. Auf insgesamt 280 Lesungen und Gesprächsrunden präsentierten sich unter anderem Volker Braun, Henryk M. Broder, Hanna Krall, Tschingis Aitmatow, Erich Loest, Friedrich Schorlemmer (einmal in einer satirischen Lesung, das andere Mal mit Gesang und Antje Vollmer), Peter Wawerzinek, Peter Nadas, Ute Lemper, Heiner Geißler und Valentin Falin einem eher mehr als weniger interessierten Publikum. 100.000 Liter Kaffee, 36.000 Flaschen Sekt wurden getrunken, 89.000 Häppchen (u.a. mit Seelachs, Lachs, Kaviar, Ei, Schinken) gegessen. Die Frankfurter Buchmesse mag zwar immer noch achtmal so groß sein – gemütlicher ist es in Leipzig allemal. Wo in Frankfurt das Burn- out-Syndrom längst die Gesichter schwer gezeichnet hat, lächelt man hier still vor sich hin und ist meist schön, wenn man Frau ist. Verliebte Blicke wandern oft von Stand zu Stand. Wenn es so weitergeht, wird man in ein paar Jahren in den Leipziger Messehallen vermutlich sogar Leute finden, die Bücher lesen.

Weiter mit Fakten: Im Festsaal des Alten Rathauses wurde dem ungarischen Schriftsteller Peter Nadas („Buch der Erinnerung“, Rowohlt) am Freitagmorgen der mit 20.000 Mark dotierte „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 1995“ (eine Art Pendant zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels) verliehen. „Ich glaube nicht, daß er die Verständigung zwischen den Völkern auch nur um ein Jota vorangebracht hat“, sagte Namensvetter Peter Esterhazy in seiner Laudatio, „aber vielleicht hat er mehr als irgendwer sonst dafür getan, daß wir ihre Problematik wahrnehmen, daß wir etwas nicht wahrnehmen, daß wir uns im Zeichen des Verstehens mißverstehen.“ Mit einem „Offen gestanden sehe ich kaum noch Chancen, daß wir einander verstehen. Nicht nur so im allgemeinen, sondern zuallererst: ich, du, er, sie, wir alle, ein Mensch den anderen“ antwortete der kluge Romancier und entwarf in seiner hervorragenden Rede ein realistisch-deprimierendes Bild der politischen Lage im geteilten Europa. „Nicht die Freiheit, sondern die Totenstille der Restauration“ sei den diversen Wenden, Kehren, wie auch immer, gefolgt. „Die in Demokratie bewanderten europäischen Völker bemühen sich nicht darum, demokratische Traditionen zu stärken, Fehler in den demokratischen Systemen zu korrigieren, Funktionsstörungen zu beheben. Es geht ihnen vielmehr darum, die hierarchische Ordnung neu festzulegen. Einen Dialog gibt es nicht, er ist unerwünscht. Statt einer natürlichen europäischen Integration bieten sie den neuen Demokratien kontrollierte Isolation. Sie lassen keinen Zweifel daran, wer bestimmt, wer überwacht, wer in den Gang der Dinge hineinreden darf und wo die Grenzen der gebotenen Höflichkeit enden.

Europa ist menschlich und geistig derart heruntergekommen, daß es keinen Denker mehr hat, der die Autorität besäße, den Bankrott glaubwürdig zu erklären. Es geht nicht. Ich habe keine Ideen, ich habe keine Reserven mehr. Ich habe mich grundsätzlich geirrt. Ich bin müde. Ich kann nicht mehr“, sagte Nadas, der nicht mehr daran glaubt, daß solcherlei „Geständnisse überhaupt noch Gehör finden“ könnten.

Weiter mit Fakten: Die Übersetzerin Svetlana Geier (die, die aus „Schuld und Sühne“ „Verbrechen und Strafe“ machte) erhielt den mit 10.000 Mark dotierten „Anerkennungspreis“, die Klos reinigt anderthalbstündig „für Sie die Dienstleistungsgruppe Piepenbrock“, gespenstisch marschiert Volker Rühe am Rande vorbei, Hitler gibt's bei Carlsen als Comic, Erich Loest ist ein Netter, die Auflage des niveaustarken DDR- Nacktmagazins Das Magazin liegt bei 78.000, draußen vor den Hallen macht immer noch „Der Feminist“ mit einem „Heil Kind“ auf sich aufmerksam, und der Einzelbuchverleger Augustus Hoffmann streichelt sein einziges Buch.

Wg. Pflegeversicherung und so („das läppert sich so zusammen“) beklagte der Buchhandel im Januar Umsatzeinbußen; inzwischen erholt er sich aber wieder. Verlagsmarketingleute und Lektoren wechseln ständig wie die Fußballspieler die Vereine (sie sprechen von „Angeboten, die man nicht ausschlagen kann“), und alle halbe Stunde meldet sich Fritz-Jochen Kopka im Radio: „Tach. Ich heiße Fritz-Jochen Kopka und bin Reporter bei der Wochenpost.“ Meine Hobbys sind Lesen, Musikhören und Fußball. Schreibt mir doch mal.

Der sympathische Wochenpost- Mann sei zu dem Werbespot quasi gezwungen worden, berichtete ein Kollege. Subversiv hätte er wohl versucht, „den Kram“ möglichst blöd zu gestalten. Das ist lustig. So machten wir uns am ersten Messetag auch gutgelaunt auf, den juvenilen WoPo-West-Chefredakteur Matthias Döpfner zu besichtigen und mit Billigkameras in ein Blitzlichtgewitter zu tauchen. Doch der hünenhafte (mindestens 2,31 Meter) Opernexperte war leider schon fort. So tauschte man Gerüchte und Geschichten: Jemand erzählte vom mißglückten WoPo- Weihnachtsfest, bei dem alle Mitarbeiter hübsch verpackte Rezensionsexemplare geschenkt gekriegt hatten (und daraufhin schwer gekränkt nach Hause gingen; nur wenige Getreue seien bei Döpfner geblieben), einer mutmaßte, die Zeitung werde ohnehin wohl im Mai eingestellt – ein anderer wollte aus vertraulichen Quellen davon wissen, daß Wochenpost und Woche demnächst fusionieren würden. Unbestritten ist, daß am Donnerstag abend im oberschicken „Lampe-Saal“ des Museums der Bildenden Künste eine von Fritz-Jochen Kopka geleitete Podiumsdiskussion zum Thema „Der Zeitgeist zeigt Ehrgeiz – Ostdeutsche Literaten in der Offensive?“ stattfand, die die beteiligten SchriftstellerInnen jedoch eher in der Defensive zeigte.

„Irgendwie eklig“ fand man den „Betrieb“. Der sympathische Klaus Schlesinger fühlte sich „ein wenig überrollt und an die Wand gedrückt“, Bert Papenfuß konstatierte eine „kollektive Individuation“, Irina Liebmann wollte „konstruktiv nach vorne denken“, und die Autorin Christa Gießler, die die Lesungen vor Werktätigen sehr vermißte, verlangte es nach „Sinnstiftung“, wenn ich's recht verstanden habe. In einer anderen, überfüllten Podiumsdiskussion fragten sich u.a. F.C. Delius, Angela Krauß und der Verleger Christoph Links, ob die „deutsche Literatur in der Krise“ sei. „Wohin mit den leisen Tönen?“ wollten die DichterInnen Kristiane Allert- Wybranietz, Kerstin Hensel, Wilhelm Bartsch (der ist lustig), Volker Braun und Mario Wirz wissen. Wohin nur?

Feistrotwangig-optimistischer gab sich die Edition Friedhof, deren Verlagsadresse eher versöhnlerisch wirkte: Frankfurt a. M., Leipziger Straße. Seit fünf Jahren veröffentlicht die „Edition“, die man in fünf Anführungszeichen setzen sollte, Anthologien mit dem Titel „Deutschlands neue Dichter und Denker“. Hobbyliteraten bezahlen gerne, um in dem unseligen Verlag Verse wie „Deutschlands neue Dichter und Denker / sind die zahlreichsten Kopfverrenker“ ins Licht der Öffentlichkeit treten zu lassen.

Ganz so schwer intellektuell gaben sich die sympathischen Theoretiker von der Amsterdamer Agentur Bilwet (Institut für illegale Wissenschaften – in Gründung) bei der Vorstellung ihres Buches „Der Datendandy“ nicht. Arjen Mulder und Lex Waterloot, die keine Lust mehr auf Medientheorien haben und statt dessen demnächst die Welt auf der Folie des Tourismus erklären wollen, propagierten sehr unterhaltsam in der Leipziger Hippiekneipe „naTo“ die Freuden des „Wolkendenkens“. „Es kann ja nicht jeden Tag Zukunft sein“, ist ihre Parole. Das ist prima.

Am schönsten und interessantesten waren wohl die Lesungen und Diskussionen, die im Rahmen des diesjährigen Schwerpunktthemas „Tschechische Republik“ stattfanden. Zum einen ist es sowieso klasse, wenn man fremde Literaturen nicht nur in ihren Eindeutschungen kennenlernt, sondern beides: die Melodie einer fremden Sprache und ihre Bedeutung, zum anderen gibt es von zahlreichen aktuellen tschechischen Autoren keine deutschen Übersetzungen. Von Jachym Topol zum Beispiel, dem 33jährigen Mitherausgeber und Gründer der tschechischen Undergroundzeitschrift Revolver, dessen Roman „Die Schwester“ in Tschechien zum Kultbuch avancierte.

„Alle schreien nach dem Buch der Nachwendezeit. Nun ist es da, und keiner will es drucken“, ärgerte sich Übersetzerin Eva Profousova. Sie vermutet, daß die Begutachter von Fischer und Luchterhand schlicht keine Lust gehabt hätten, die 500 Seiten zu lesen.

Wer nach Geschäftsabschlüssen fragt, kriegt meist ein Kichern zur Antwort. Im Gegensatz zu Frankfurt ist Leipzig eine Publikumsmesse. Das schreibt jeder in allen Kommentaren seit Jahren. Das stimmt wohl auch und ist auch schön.

Viele Lesungen, wie die von Harry Rowohlt, waren restlos überfüllt und ausverkauft. Der zottelig-lustig-kluge Jerry Garcia des deutschen Literaturbetriebs las in der kürzesten Nacht des Jahres sechs Stunden lang, und kaum einer ging. Harry Rowohlt, der zum erstenmal seit mehr als dreißig Jahren wieder in Leipzig war – damals war er Kommunist und fand alles toll, heute ist er's nicht mehr und findet immer noch alles toll. Heute wird Harry Rowohlt übrigens 50. Herzlichen Glückwunsch.