Buddhistische Sekte im Massenmordverdacht

■ Japanische Polizei entdeckt komplett ausgerüstetes chemisches Labor

Tokio (taz) – Mitglieder der buddhistischen Sekte Aum Shinrikyo werden nach gestrigen Angaben der japanischen Polizei der Vorbereitung des Massenmords verdächtigt. Damit bestätigten die Untersuchungsbehörden erstmalig, daß die seit Mittwoch andauernde Großrazzia in den Gebäuden und Einrichtungen von Aum Shinrikyo in Tokio, Osaka und dem Dorf Kamikuishiki sehr wohl im Zusammenhang mit den tödlichen Giftgasanschlägen in der Tokioter U-Bahn stehen. Bei den Attentaten am vergangenen Montag waren zehn Menschen getötet und über fünftausend verletzt worden.

Am Sonntag befanden sich annähernd tausend Polizisten im ganztägigen Einsatz. Dabei stießen die Behörden bei ihren Untersuchungen in Kamikuishiki in ein Gebäude vor, das von Sektenmitgliedern als „Wissenschaftsministerium“ bezeichnet wurde und den meisten von ihnen verschlossen war. Offenbar aus gutem Grund: Die Polizisten entdeckten dort in einer Geheimkammer ein vollständig ausgerüstetes Chemielabor. Den Behörden schien damit bewiesen, daß Sektenmitglieder tatsächlich in der Lage gewesen sind, das Nervengas Sarin herzustellen, mit dem die tödlichen Anschläge verübt wurden.

Immer mehr Hinweise deuten inzwischen auf eine kriminelle Verwicklung von Aum Shinrikyo, deren Sprecher gestern alle Anschuldigungen als grundlos zurückwies. In einer Heilklinik der Sekte in Tokio stellten die Behörden 600 Flaschen Entgiftungsmittel für Sarin sicher. Außerdem enttarnte die Polizei drei chemische Zulieferfirmen für die Anlagen in Kamikuishiki als von der Sekte selbst gesteuerte Betriebe. Die Sekte hatte offenbar so verheimlichen wollen, wieviel sie von den einzelnen Stoffen besaß.

Bis zum Wochenende hatte die Polizei mehrere hundert Tonnen Phosphorstoffe, Desinfektionsmittel und andere giftige Substanzen gefunden. Experten warnten, daß die Vorräte zur Tötung von mehr als 100 Millionen Menschen ausgereicht hätten, falls sie zur Herstellung von Sarin bestimmt waren. Das erinnerte an eine bisher unveröffentlichte Publikation von Aum Shinrikyo, in der es hieß, daß 90 Prozent der japanischen Stadtbewohner demnächst einem Giftgasanschlag zum Opfer fallen würden.

Viele Bürger von Kamikuishiki drückten ihre Unzufriedenheit mit dem Vorgehen der Polizei aus: „Man hätte schon früher etwas unternehmen können“, sagte eine Bäuerin. „Wir wußten längst, daß es sich um eine Verbrecherorganisation handelt“, meinte ein anderer Dorfbewohner. Zuvor hatten sich die Bürger von Kamikuishiki monatelang erfolglos bei der Polizei über unerklärliche Aktivitäten von Aum Shinrikyo beklagt. Georg Blume