■ Der Krieg in der Türkei richtet das Land zugrunde
: Deutsche Neutralität? Eine Chimäre!

„Noch dieses eine Mal, dann beginnt die Demokratisierung.“ Dieser Satz der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller, einen Tag nach dem Einmarsch von 35.000 türkischen Soldaten in den Nordirak formuliert, erinnert an den Standardspruch Rückfälliger in einer Suchttherapie: Noch dieses eine Mal, dann... Es ist nicht das erste Mal, daß die türkische Regierung den endgültigen Sieg über die kurdische Guerilla ankündigte. Es war Tansu Çiller, die schon bei der letzten Großoffensive gegen die PKK von der „Endlösung der Kurden-Frage“ sprach – die Sucht nach Gewalt ist durch Mißerfolge nicht therapierbar. So ist auch diesmal, nach einer Woche, bereits klar, daß selbst mit dem größten Aufwand an Menschen und Material seit der türkischen Invasion Zyperns nicht gelungen ist, die Guerilla militärisch zu besiegen. Die PKK hat sich lediglich aus dem Gebiet zurückgezogen, ihre Lager geräumt und wartet nun ab, wie lange türkische Soldaten irakisch-kurdisches Territorium besetzt halten können.

Vielleicht planen Çillers Generäle tatsächlich eine Pufferzone nach israelischem Vorbild, doch selbst damit – soviel hätten sie vom Fall Libanon auch gleich lernen können – wäre der Krieg in Kurdistan nicht zu beenden. Die ständige militärische Eskalation im Südosten der Türkei und den angrenzenden Regionen des Irak und Iran wird voraussichtlich zu einem ganz anderen Ergebnis als dem „Endsieg“ und einer anschließenden Demokratisierung führen. Getroffen werden vor allem kurdische Zivilisten. Die PKK zieht sich angesichts der Übermacht des türkischen Militärs aus der direkten Konfrontation in den kurdischen Gebieten zurück und verlegt sich verstärkt auf Sabotage und Anschläge im Westen der Türkei und in Europa.

Unabhängig davon, ob die Anschläge auf türkische Einrichtungen in Deutschland in den letzten zwei Wochen tatsächlich überwiegend auf das Konto der PKK gehen oder nicht, zukünftig wird es Anschläge der PKK im Ausland geben. Und – dafür spricht die Logik dieses Konfliktes – die Auswirkungen werden verheerender sein. Wo es bislang um Sachschaden ging, steht zu befürchten, daß es Tote und Verletzte geben wird.

Der Krieg um Kurdistan bekommt eine neue Dimension. Für die Europäische Union, vor allem aber die Bundesrepublik, stellen sich damit verschärft einige Fragen, die zwar schon längere Zeit vor sich hinschwelen, bislang aber nur widersprüchliche Reaktionen erzeugt haben. Sind Kurden in Deutschland – auch und vor allem Mitglieder und Sympathisanten der PKK – nun politische Flüchtlinge oder aber potentielle Terroristen? Dahinter verbirgt sich letztlich die Frage, wie weit sich die Bundesregierung in den Bürgerkrieg in der Türkei hineinziehen läßt. Verhält sie sich neutral, oder läßt sie sich zu einer De-facto- Kriegspartei instrumentalisieren? Und unmittelbar damit verknüpft stellt sich die Frage nach den Menschenrechten in der Türkei und den Möglichkeiten Europas, darauf Einfluß zu nehmen.

Die Bundesregierung hat sich in den letzten Jahren, das zeigte nicht zuletzt der jüngste Auftritt Außenminister Kinkels in Ankara, bereits weit auf die abschüssige Bahn begeben. Mit dem Verbot der PKK und deren Einstufung als terroristische Organisation hat man sich so weit mit der offiziellen türkischen Terminologie und Definition identifiziert, daß es ihr nun schwerfällt, die „Terrorbekämpfung“, auch wenn sie gleich mit einer ganzen Invasionsarmee daherkommt, wirksam zu kritisieren. Das gilt in abgeschwächter Form für die EU insgesamt: Was ihre Troika Juppe – van den Brook – Kinkel in der letzten Woche in Ankara aufführte, war alles andere als ein überzeugendes Plädoyer für Menschen- und Minderheitenrechte. Diese Entwicklung droht sich noch zu verschärfen. Für deutsche und europäische Politiker reduziert sich die kurdische Frage mehr und mehr auf ein polizeiliches Problem – eine Politik, deren Erfolglosigkeit und Dummheit diverse türkische Regierungen bereits seit Jahren vorexerzieren. Die Anschläge in Deutschland und anderen EU- Ländern zeigen: Die Kurdistan- Frage ist nicht mehr regional auf die südöstliche Türkei zu begrenzen. Auch die Bundesregierung muß sich dazu politisch verhalten.

Im Prinzip geht es darum, daß die Bundesrepublik und die EU sich endlich auch massiv dafür einsetzen, die Rechte ethnischer Minderheiten in dem Partner- und potentiellen Beitrittsland Türkei durchzusetzen. Solange das nicht geschieht, helfen alle Appelle an die türkische Regierung, jetzt aber endlich die Menschenrechte einzuhalten, wenig. Selbst gefestigte Demokratien wie Frankreich, Großbritannien, Spanien und auch die Bundesrepublik neigen bei der sogenannten Terrorismusbekämpfung zu Folter- und Liquidationspolitik. Das Vorgehen der französischen Armee in Algerien, die Todesschwadrone der GAL in Spanien, die Todesschüsse der SAS in Gibraltar und der Umgang des deutschen Sicherheitsapparates mit der RAF zeigen, wie dünn die Haut des Rechtsstaates in Europa immer wieder ist.

Das gilt um so mehr für ein Land ohne demokratische Tradition und voller ökonomischer Verteilungskämpfe. Seit dem Militärputsch in der Türkei 1980 ist die reale Kaufkraft der großen Mehrheit der türkischen Bevölkerung kontinuierlich zurückgegangen. Nicht zuletzt diese dramatische Verarmung der Mittelschicht ist der Nährboden, auf dem die ethnischen und religiösen Konflikte zu blutigen Auseinandersetzungen gedeihen. Die Milliarden, die die türkische Regierung in den Krieg gegen die eigene Bevölkerung steckt, fehlen für den Aufbau des Landes.

Die EU und die Bundesrepublik dürfen die türkische Regierung auf diesem Weg nicht weiter unterstützen, indem sie sich darauf beschränken, einerseits als polizeiliche Erfüllungsgehilfen aufzutreten und andererseits die Einhaltung der Menschrechte zu fordern. Der einzige politische Ausweg aus dem Dilemma ist, dasselbe zu tun, was die USA in Israel gemacht haben: Schritt für Schritt auf eine Verhandlungslösung zu drängen und diese aktiv zu unterstützen. Weiter als Rabin und Arafat vor zehn Jahren auseinander waren, sind Demirel und Abdullah Öcalan auch nicht voneinander entfernt.

Es hilft gar nichts, auf den angeblichen oder auch tatsächlichen terroristischen Charakter der PKK zu verweisen. Früher oder später wird eine türkische Regierung mit der kurdischen Freiheitsbewegung verhandeln müssen, oder das Land geht an dem Konflikt zugrunde.

Die Aufgabe der EU ist ganz eindeutig. Sie muß zusammen mit den USA dafür sorgen, daß diese Verhandlungen so früh wie möglich beginnen. Dann haben auch die Menschrechte in der Türkei wieder eine Chance. Jürgen Gottschlich