Ein weißer Stein

Eine Erzählung aus dem Iran  ■ Von Ghazi Rabihavi

Der Fotograf sprang über den Galgen herunter, und seine drei Kameras sprangen mit ihm. Wir machten uns Sorgen, daß sie womöglich kaputtgingen. Der Galgen blieb auf der Ladefläche des Lastwagens liegen.

Er klopfte sich den Staub von der Hose und fragte:

„Seid ihr Kinder von hier?“

Wir guckten uns an, und einer von uns sagte:

„Willst du uns knipsen oder den Toten?“

Der Fotograf blinzelte nervös und fragte: „Ist er tot?“ und lief mit seinen schwer aussehenden schwarzen Kameras zum Patrouillenauto. Das war mit den drei Revolutionsgardisten, die G-3-Knarren bei sich hatten, schon eine Stunde vorher angekommen. Und einer von uns hatte gesagt:

„Ich wette, die sind nicht geladen.“

Sie halfen, die Galgenpfosten vom Lastwagen abzuladen und sie auf beiden Seiten eines weißen Steins aufzustellen, wo sie vorher schon zwei nicht allzu tiefe Löcher gegraben hatten. Bevor sie den Stein fanden, hatte uns einer von ihnen gefragt:

„Hey, du. Kannst du uns mal einen Stuhl holen?“ Und einer von uns hatte zurückgefragt:

„Er wird gehängt, oder? Weil ihr ihn hängen müßt.“

Ein anderer von ihnen hatte dann gesagt:

„Laßt mal, wir brauchen keinen Stuhl. Dieser weiße Stein reicht.“

Jetzt kamen ein paar Männer aus verschiedenen Teilen der Stadt zu uns rüber. Es war ein schöner Freitagmorgen zum Hängen. Aber es wäre noch besser gewesen, wenn es nicht zu schneien angefangen hätte oder wir wenigstens Handschuhe gehabt hätten. Einer sagte, sie würden ihn nicht hängen, wenn es schneit. Es schneite nicht, als sie den Toten brachten. Als sie ihn brachten, lebte er noch.

Er kletterte aus dem Ambulanzwagen und sog die Luft tief ein. Er hatte den Reißverschluß seines grüngrauen Pullovers bis oben hochgezogen, oder vielleicht hatte es auch jemand für ihn getan, weil ja seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Die erste Schneeflocke setzte sich ihm ins Haar. Ein paar Leute von hier gingen auf ihn zu. Der Fotograf kontrollierte seine Apparate. Am Ambulanzwagen waren die Scheinwerfer eingeschaltet worden. Die Schneeflocken waren leicht und weich. Sie schmolzen, noch bevor sie die Lichter berührten. Einer von uns sagte:

„Schade. Ich war noch nicht mal geboren, als sie den Schah-Typen hingerichtet haben.“ Ein anderer sagte:

„Mein Bruder war da schon dabei. Mein Vater hat ihn auf die Schultern genommen, und dann konnte er ihn sehen. Bang! Bang!“

Der Lastwagenfahrer sagte:

„Ich würde wirklich gerne bleiben und zugucken. Das wär mir ein richtiger Triumph. Aber ich muß weiter und den Soldaten das Essen bringen.“

Der dicke Revolutionsgardist kratzte sich seinen Bart mit dem Gewehrlauf und sagte: „Viel Glück.“ Der Lastwagenfahrer rannte zurück zum Laster und verfluchte den Schnee.

Der Gefangene ging im Schnee auf und ab und hatte keine Ahnung, daß er dabei dem Galgen immer näher kam. Manchmal stand er einfach nur da, mit seinen langen dünnen Beinen, wandte den Kopf mal hierhin und dahin und atmete tief ein. Er krauste die Nase und zog die Augenbrauen hoch und versuchte so, das Tuch über den Augen zu verrücken, damit er sehen konnte, wo er war. Aber es war zu fest gebunden. Einer von uns sagte:

„Ruf seinen Namen, dann weiß er, wo er ist.“ Ein anderer sagte:

„Als ich seinen Namen kannte, war er ein anderer Mensch.“

Ein paar Leute waren immer noch dabei, den Galgen im Boden zu verankern. Nur Männer und Kinder kamen zum Zugucken. Einer der Typen, dem ein anderer mit gefalteten Händen eine Stütze zum Klettern gemacht hatte, sprang wieder runter und fragte:

„Wo ist der andere?“ Der Gefangene wandte den Kopf und sagte: „Ja. Wo ist er?“

Wir kannten den anderen nicht. Er war nicht aus unserer Stadt. Wir hatten ihn nur einmal gesehen – nein, zweimal, in derselben Nacht. Das war Anfang Herbst. Die Sonne ging gerade unter, als wir sahen, wie er am Tor ankam. Er hatte einen Rollkragenpullover an, den er lang über der Hose trug. Seine Kleidung war schwarz wie seine Haare. Der Torwächter aß gerade Fleisch und Reis. Der Fremde hatte einen Strauß rosa Rosen bei sich und versuchte damit, eine schwarze Plastiktüte zu verdecken. Er war nicht begeistert, daß wir ihm zusahen. Aber wir taten es trotzdem, und unserer Meinung nach waren da zwei Flaschen in der Tüte. Er hatte die Adresse des Gefangenen, wußte aber den Weg nicht. Also haben wir ihm den Weg gezeigt. Zuerst dachten wir, daß er ein ziemlich langer Boxer ist. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und hob den Kopf. Dann guckte er uns unter den Lidern heraus an. Die Augenbrauen waren dort, wo sie sich über der Nase getroffen hatten, rasiert, und er lächelte uns an. Das Sonnenlicht wurde durch das Laub der Platane gefiltert, und auf seinem Gesicht lagen gleichzeitig Licht- und Schattenflecken. Er lächelte und wandte sich in die Richtung, die wir ihm gezeigt hatten. Der Wächter wusch seinen Teller unter dem Wasserhahn ab und fragte uns: „Wer war das?“, und wir sagten es ihm. Er sah rüber zum Haus des Gefangenen.

Die Leute näherten sich jetzt dem Galgen, sammelten sich vor ihm. Der Fotograf saß im Ambulanzwagen und rauchte. Der Gefangene, der auf den Galgen zuging, wußte immer noch nicht, wo er war. Einer der Wächter nahm ihn am Arm und zog ihn zum Stein hinüber. Der Fotograf schnappte sich seine Apparate und sprang aus dem Ambulanzwagen. Er hatte so eine Safariweste an mit vielen Taschen. Aus einer davon zog er nun eine schlaue Drahtkonstruktion, die er an der Schulterklappe befestigte. Dann holte er ein weißes Tuch raus und zog es über den Rahmen, den er sich gemacht hatte. Das war gegen den Schnee. Er lief zum Galgen, mit diesem Schirm, der aus seiner Schulter zu wachsen schien.

Keiner der Zuschauer war mit dem Gefangenen verwandt. Wir wußten nicht einmal, ob er Verwandte hatte. Er war ein Eigenbrötler, baute hölzerne Körper für Streichinstrumente und fuhr zweimal in der Woche irgendwohin. Die Leute sagten, daß er irgendwo noch Frau und Kinder hatte, die er verlassen hatte. Der Kaufmann hatte zu ihm gesagt:

„Versuch es noch einmal. Du bist erst 45. Das ist genau richtig, um noch mal zu heiraten.“

Der Gefangene hatte gelächelt und gesagt: „Genau richtig.“

Der Typ, der den Gefangenen jetzt am Arm hielt, guckte immer noch hoch zum Seil. Dann sagte er zu ihm: „Stell dich mal auf diesen Stein, mein Lieber. Es ist nur ein Test. Damit wir wissen, daß hier alles funktioniert.“

Der Gefangene suchte mit den Füßen nach dem Stein. Fand ihn. Wenn wir seine Augen hätten sehen können, hätten wir gewußt, ob er Angst hatte oder nicht. Damals nachts um zwölf, im Herbst, als die Wächter in sein Haus eindrangen und beide verhafteten, hatte er sein Gesicht fest an die Heckscheibe des Autos gepreßt und versucht, seinen Geliebten irgendwo zu sehen. Dann hatte er mit zitternder Stimme hinter dem Glas geschrien: „Laßt ihn in Ruhe!“

Das Auto fuhr weg. Eine zermatschte rosa Rose klebte am Hinterreifen.

Der Gefangene fragte:

„Ist es soweit?“ Der Wächter sagte:

„Nein. Der Mullah ist noch nicht da. Ohne ihn können wir nicht anfangen.“ Er fragte: „Und dann?“ Der Gardist sagte:

„Zieh deine Schuhe aus. Das ist jetzt nur zur Probe.“ Der Gefangene zog die nackten Füße aus den losen Leinenschuhen und stellte sich auf sie. Seine langen dünnen Zehen waren rot vor Kälte. Sie hatten den weißen Stein aufrecht gestellt und hielten ihn in dieser Stellung fest. Der kleinste Stoß würde ihn umwerfen und die Füße baumeln lassen. Der Gardist sagte:

„Jetzt kletter mal rauf.“ Er setzte einen Fuß auf. Der Stein wackelte und fiel fast um. Der Wächter sprang vor und rückte ihn wieder zurecht.

„Was ist mit dir los? Hast du es so eilig?“ sagte er. Dann ging er zu ihm und plazierte beide Füße des Gefangenen sorgfältig auf dem Stein. Jetzt stand der Gefangene auf dem Stein und ragte aus der Menschenmenge heraus. Seine Schuhe waren unten geblieben, auf dem Boden, und alles um ihn herum war weiß: der Himmel und der Schnee. Die anderen Wächter und der Fahrer standen unter einem großen Schirm, wie man sie manchmal am Strand hat, neben dem Patrouillenwagen. Weit vom Galgen entfernt. Der Fotograf sagte:

„Was machst du da? Der Mullah ist doch noch nicht da.“ Der Wächter sagte:

„Nein, ist er nicht.“ Der Fotograf sagte:

„Dann komm her und iß ein paar Datteln mit uns.“ Der Wächter sagte:

„Nur wenn ich unter deinem Schirm stehen darf“, und brach in Gelächter aus. Der Fotograf sah zu seinem Schirm hoch und sagte:

„Das ist für die Fotoapparate“, und ging zum Patrouillenwagen. Die Zuschauer sagten gar nichts. Sie standen nur da, stumm, und sahen den Gefangenen an. Der Wächter hielt sich an einer Seite des Galgens fest und zog sich hoch zu ihm auf den Stein. Wenn er keine Stiefel angehabt hätte, wäre da für noch ein Paar Füße Platz gewesen. Der Stein wackelte wieder, fiel aber nicht um. Der Wächter griff nach dem herunterhängenden Seil und mühte sich ab, es dem Gefangenen um den Hals zu legen. Der Gefangene versuchte zu helfen, konnte aber ja nicht genau sehen, was der andere machte. Dann sprang er vom Stein runter, und der blieb aufrecht stehen. Er sagte:

„Siehst du, so fest steht er jetzt.“

In der Ferne sah man ein Auto sich nähern. Einer der Wächter rief:

„Macht schnell!“ Er guckte zum Patrouillenwagen und dann zum Gefangenen und sagte: „Versuch, dich daran zu gewöhnen. Wenn es soweit ist, brauchst du keine Angst mehr zu haben.“

Das einzige, was sich bewegte, war das Auto in der Ferne. Wir konnten es kaum sehen, aber weil der Schnee so weiß war, konnten wir bald die Marke erkennen: Es war entweder ein Mercedes oder ein Hillman. Der Mullah lachte bestimmt auf seinem Rücksitz. Der Wächter sagte:

„Guck nach, damit es nicht zu lose wird. Ich bin gleich zurück.“ Der Gefangene sagte:

„Was?“ Aber der Wächter war schon zum Patrouillenwagen gegangen. Der Kofferraum des näherkommenden Autos lag tief, weil soviel Gewicht auf dem Rücksitz war. Es kam näher, war aber immer noch ziemlich weit weg. Neben dem Patrouillenwagen aßen die Wächter ihre Datteln.

Frauen durften nicht zugucken, weil es sie nichts anging; es hatte nichts mit ihnen zu tun. Der Gefangene versuchte, den Stein mit seinen Füßen etwas zu bewegen. Aber er rührte sich nicht. Einer der Zuschauer sprang nach vorn, stand dann aber wieder völlig bewegungslos. Wir warteten alle auf das näher kommende Auto. Die Wächter und der Fotograf warfen die Dattelsteine in den Schnee. Die Schneeflocken schmolzen, sobald sie den Boden berührten. Der Gefangene versuchte wieder, den Stein zu bewegen. Er rührte sich etwas, fiel aber nicht um. Die stummen Zuschauer standen bewegungslos, als wären sie am Boden festgefroren und als würde es nicht schneien.

Unsere Hände waren rot vor Kälte. Rot wie der Wein, den die Wächter in der Nacht der Verhaftung im Haus des Gefangenen gefunden hatten. Eine der Flaschen war leer. Die andere noch halb voll. Die Wächter hatten auch die zwei langstieligen Kristallgläser mitgenommen. Inzwischen konnten wir das Auto deutlich sehen. Es war ein Hillman. Einer der Wächter warf die Dattelschachtel weg. Die anderen aßen schnell auf, was sie noch in den Händen hatten. Einer ging nach vorn, um das Auto in Empfang zu nehmen, die anderen kamen hinterher. Der Fotograf schaute den Galgen an. Er ging näher hin, änderte dann aber seine Meinung und ging statt dessen zur Ambulanz rüber. Der Gefangene stieß den Stein mit seinen Füßen. Der wackelte und fiel um und ließ die nackten Füße in der Luft hängen. Seine langen dünnen Zehen suchten nach dem Stein. Aber da war es schon zu spät. Seine Bewegungen hörten schnell auf, und die Füße hingen still. Endlich war das Auto da, seine Scheinwerfer blendeten uns. Wir wärmten unsere Hände an den Scheinwerfern des Ambulanzwagens, weil der Fotograf das auch machte.Teheran 1994

Ghazi Rabihavi ist iranischer Schriftsteller, dessen Arbeiten im Iran größtenteils nicht erscheinen dürfen. Er lebt in London.