Gnadenloser Populismus

Warum die Amerikaner die Todesstrafe mögen  ■ Von Christopher Hitchens

In der amerikanischen Kultur gibt es zumindest einen gewaltigen und unübersehbaren Widerspruch, der sich in den politischen Institutionen Amerikas auf bizarre Weise spiegelt. Von diesem Widerspruch kann man leichter erzählen als ihn erklären, denn seine Vertreter sind sich seiner im allerseltensten Fall bewußt. Konkret wird er in der Person meines Mitpassagiers auf einem United-Airlines- Langstreckenflug, der zunächst das Hohelied des „tollsten Landes, das Gott geschaffen hat“ singt und von der „freiesten Gesellschaft auf Gottes Erde“, „dem Land der Freien und Heimat der Tapferen“ faselt. Ein paar kostenlose Drinks, und tausend Flugmeilen später warnt er dann, daß man auf der Straße nicht sicher ist, alte Leute vor Angst ihre Wohnungen kaum noch verlassen, kleine Kinder permanent Belästigungen ausgesetzt sind und einen mutigen Unternehmer hier nichts anderes erwartet als Ruin und Bankrott.

Dasselbe Paradies besingt auch jener mehr weltanschauliche Typ, der einem gerne vorträgt, daß die Macht des Staates unbedingt beschnitten gehöre, daß „big government“ der Feind des amerikanischen Ideals sei – um dann hinzuzufügen, daß es höchste Zeit fürs Oberste Gericht sei, die Todesstrafe endlich obligatorisch zu machen. Ich kenne ein paar aufrechte Liberale, die dem Staat prinzipiell kein Recht über Leben und Tod seiner Bürger einräumen – doch selbst sie benutzen dieses Argument, auch wenn sie einräumen, es sei ironisch, daß selbst eigenwillige amerikanische Individualisten den Staat an diesem Punkt zu mehr Handeln auffordern. Am originellsten drückte sich die allgemeine Stimmung kürzlich nach der Niederlage Mario Cuomos in einer Notiz der New York Times aus: „Elf Tage nach Amtsantritt ließ George Pataki, New Yorks neuer Gouverneur, der für die Todesstrafe eintritt, den Gefangenen Thomas Grasso, einen Mörder, der für die Todesstrafe votiert, nach Oklahoma bringen, wo er mit seiner Hinrichtung durch eine tödliche Injektion rechnen kann.“ (Seit 7. März darf auch in New York wieder exekutiert werden, Anm. d. Red; siehe taz vom 9. 3. 1995.)

In Amerika ist die Todesstrafe also derart beliebt, daß selbst die Insassen der Todeszellen zu ihrer Fangemeinde gehören. Vor nicht allzu langer Zeit forderte auch ein Kindermörder, den das Gericht als „unverbesserlichen Sadisten“ bezeichnete, ihm die berüchtigte autoerotische Methode des Strangulierens als Todesart zu gewähren. Sein Wunsch wurde erfüllt, obwohl man dafür sogar kurzfristig ein Gesetz ändern mußte. Doch nicht einmal diese Groteske erzeugte einen schlechten Nachgeschmack. Es herrscht der Populismus – was er fordert, wird gemacht.

Außer Japan läßt keine weitere Industrienation mehr hinrichten. Aber keine andere „fortgeschrittene Industrienation“ wie Amerika basiert historisch so eng auf der direkten Justiz des Pioniers; keine andere vergleichbare Gesellschaft wird durch ethnische und soziale Konkurrenz derartig untergraben; und keine andere Nation hat eine derart gruselige Waffenfangemeinde mit einer so intimen Kenntnis aller möglichen Tötungsarten. So jedenfalls lauten die Argumente – übrigens sowohl von Gegnern als auch Befürwortern der Todesstrafe.

Und doch gab es in der jüngsten Vergangenheit in Europa deutlich mehr Gewaltakte und Morde, Selbstjustiz ist auch in Irland oder Griechenland, in Italien und Spanien kein Fremdwort. In vielen Ländern gab und gibt es äußerst komplexe Stammesrivalitäten und Bürgerkriege. Und was Gewaltverbrechen angeht, so lebt Amerika seine Verbrecherdramen tatsächlich auf dem Bildschirm, in Thrillern und Fantasy-Streifen aus. Gleichzeitig belegt aber inzwischen jede statistisch seriöse Untersuchung, daß Gewaltverbrechen in den USA rückläufig sind. Und das aus dem simplen und leicht verständlichen Grund, daß Gewaltverbrechen zwar auch mit ethnischer Zugehörigkeit, Armut, Einwanderung und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu tun haben, am allerdeutlichsten aber mit dem Hormonspiegel – in anderen Worten: mit der Kriminalität von Jungmännerbanden. Und in Amerika steigt das Durchschnittsalter – was heißt, daß die Zahl der Gewalttaten pro Kopf sinkt. Das klingt vielleicht oberschlau, und die bekanntgewordenen Gewaltverbrechen sind oft von besonderer Gräßlichkeit, auf die man mit größerer Empörung reagiert als auf die viel zahlreicheren kleinen und banaleren Verbrechen.

Ohne Konsequenz und „Privileg der Armen“

Aber Millionen Bürger dieser reichen und mit einer funktionierenden Polizei ausgestatteten Gesellschaft fühlen sich nicht sicher. Auf ihre Ängste muß eingegangen werden. Und das kann eine Verfassung offenbar nicht leisten, die vor allem das Recht der Angeklagten zu schützen scheint, die für clevere Anwälte Riesenlöcher im Paragraphennetz bereithält und zudem „brutale und außergewöhnliche Strafen“ verbietet – mit dieser Formulierung konnte vor dem Obersten Gericht die Todesstrafe legal in Frage gestellt werden.

Es gibt allerdings auch eine kleine, aber bedeutende Gruppe von Leuten in den USA, die überzeugt ist, daß die Todesstrafe ein moralischer und juristischer Fehlschlag ist – und diese Gruppe rekrutiert sich aus denen, die mit ihrer Durchsetzung befaßt sind. Der frühere Chefexekutor von St. Quentin, der in der Geschichte Amerikas die meisten Gefangenen ins Jenseits befördert hat, schrieb, daß die Todesstrafe keinen sicht- oder meßbaren Einfluß auf die Zahl der Morde habe und außerdem ohnehin „das Privileg der Armen“ sei. In einem Interview mit der Washington Post sagte Ray Marky von der Staatsanwaltschaft Florida vor kurzem: „Selbst wenn wir bewußt versucht hätten, ein möglichst chaotisches System zu schaffen, hätten wir kaum Schlimmeres anrichten können. Das Ganze ist absolut lächerlich, ein kompliziertes Hindernisrennen, so daß am Ende nur wenige und die willkürlich hingerichtet werden. Mir macht die Todesstrafe absolut keinen Spaß, hat sie noch nie. Wenn sie morgen abgeschafft würde, würde ich mich vor Freude betrinken.“

Ray Markys Aussage ist deshalb wichtig, weil der Bundesstaat Florida seit Mitte der siebziger Jahre, als das Oberste Gericht die Angelegenheit wieder an die Bundesstaaten zurückverwies, den Rekord im Hinrichten von Verurteilten hält. Gouverneur Bob Martinez unterschrieb in vier Jahren 139 Todesurteile – zeitlich immer gerne nahe an Wahlterminen, wie es auch seinerzeit Gouverneur Bill Clinton in Arkansas hielt. „Old Sparky“ (etwa: alter Funkensprüher, Anm. d. Red.), wie Floridas elektrischer Stuhl obszönerweise genannt wird, ist in ständigem Gebrauch. Florida hat seinen besonderen Ruf auch durch sein lotterieähnliches Auswahlverfahren von Gefangenen für „Old Sparky“ verdient.

Der Wunsch nach klaren Verhältnissen

Thomas Knight beispielsweise verbrachte zwanzig Jahre in der Todeszelle, und für den berüchtigten Serienkiller Ted Bundy benötigte man zehn Jahre bis zur Vollstreckung des Urteils. Andere Gefangene, die sehr viel banalere Verbrechen begangen haben, werden dagegen oft relativ schnell hingerichtet. Es wird nicht verwundern, daß letztere tendenziell arm sind, von dunkler Hautfarbe und meist mit wenig Rechtsbeistand vor Gericht standen.

Ray Marky empört vor allem dieser letzte Punkt. Jeder Gefangene nämlich, der einen Rechtsbeistand hat, kann nicht nur einen Vollstreckungsaufschub, sondern auch eine Revision oder sogar das völlig neue Aufrollen seines Falles erreichen – wodurch diese schwerste Strafe keine Konsequenz mehr hat. Das bliebe auch so, wenn die Todesstrafe auf Bundesebene ausgesprochen werden könnte. Wobei das Durcheinander sich widersprechender Statuten in den verschiedenen Staaten aus einer grotesken Situation eine Groteske per se macht: Todeskandidaten müssen buchstäblich ausgewiesen werden, um gehängt werden zu können.

„Die Todesstrafe ist im Denksystem der Leute etwas, das immer ,den anderen‘ passiert“, sagt Lesley Abrahamson, bekannt als die Staatsanwältin, die im Falle der Menendez-Brüder das Steuer in letzter Minute herumriß. Angefangen hat sie als kämpferische Opponentin der Gaskammer in Kalifornien, wo sie zahllose Angeklagte vor dem Todesurteil bewahrte. „Keiner glaubt, daß es einem der Ihren passieren könnte.“ Soweit das als Wahrnehmungsmuster gesellschaftlicher Gruppen getestet werden kann, scheint es zu stimmen. So äußern sich Schwarze, die in der Regel harte Vertreter von Law-and-order-Positionen sind, in bezug auf die Todesstrafe mit Abscheu. Ihr „kollektives Gedächtnis“ weiß, daß Galgen und Stuhl schon immer die letzten Mittel für Rassismus und Ausbeutung waren. Schwarze Amerikaner stellen auch den größten Anteil derjenigen, die unschuldig hingerichtet wurden – nach einer Untersuchung des Stanford Law Review 24 in diesem Jahrhundert.

Obwohl also mehr als offensichtlich ist, daß Todesstrafe und Rassismus historisch zusammenhängen, wäre ihre populistische Attraktion damit noch nicht ausreichend erklärt. In vielen Ländern wird Kriminalität Zigeunern, Ausländern etc. zugeschrieben, werden demokratisch gewählte Politiker aber dennoch keinem so überwältigenden Druck ausgesetzt, eine bekanntermaßen ineffektive und brutale Strafe zu befürworten. Vielleicht ist der Wunsch nach der Todesstrafe eine Variante des Wunsches nach klaren und durchschaubaren Verhältnissen.

In einer derart großen, von enormen Unterschieden geprägten Gesellschaft wie der amerikanischen, in der sich Gemeinschaften vor allem über Nachrichten und Wissensaustausch herstellen, ist eine eindeutige und klare „Botschaft“ etwas eher Seltenes. Was sich im amerikanischen Kongreß abspielt, ist undurchschaubar und extrem langsam; internationale Beziehungen sind höchst kompliziert und obskur; die Geschwindigkeit, in der Nachrichten fließen und Geschäfte abgeschlossen werden, ist dagegen atemberaubend; und das Schulsystem ist vielen Eltern ein Buch mit sieben Siegeln. Jeder Kontakt mit der Bürokratie ist entnervend und frustrierend.

Wäre es da nicht ein heilsamer Gedanke, wäre es nicht einfach schön, wenn wenigstens ab und zu ein Bösewicht direkt aus dem Gerichtssaal an die Wand gestellt werden könnte? Wäre das nicht einmal etwas Klares, ein gutes Beispiel für die Jugend? Ich gebe zu, daß ich diesen Gedanken selbst auch schon hatte – zum Beispiel zur Zeit der Watergate-Hearings und als Oliver North vor Gericht stand – und mich dann auch „vom Gesetz betrogen“ fühlte, das sich mit Bergen von Papier und Vernebelungen hinderlich dazwischenschob. Der Hunger nach Gerechtigkeit bleibt in Amerika permanent ungestillt durch ein korruptes Justizsystem, in dem nur Reiche wirklich Zugang zu allen Rechten haben. Insofern muß man sich über populistische Ressentiments nicht allzusehr wundern. Eine angenehme Konsequenz – wenn ich das einmal so giftig sagen darf – ist immerhin, daß niemand mehr versucht, das uralte und ad absurdum geführte Argument von der Todesstrafe als Abschreckung wiederzubeleben. Man ist ehrlich genug zuzugeben, daß man sie als Abfuhr braucht, als klärenden Akt des moralischen Abscheus und nicht wiedergutzumachende Vergeltung. Immerhin: Das ist damit klar – obwohl eine solche Stimmung innerhalb einer Gesellschaft, die sich, oberflächlich gesehen, aus Christen vielerlei Couleur zusammensetzt, doch etwas verstörend ist.

Wenn die Vereinigten Staaten laut Verfassung zwar ohne Staatsreligion sind, gibt es hier doch eine gewissermaßen säkulare Religion, nämlich das Recht. Rechtsanwälte sind zu Protagonisten einer realen und imaginären Moralität in einer Gesellschaft geworden, in der sie alles bedienen: vom Bestseller über Fernsehserien und Kinofilme bis hin zum wirklichen Leben. Und es ist die Komplexität und Schlauheit des Rechtssystems, die den Leuten die Beute wegschnappen. Spätestens seit die Gesetze gegen das Lynchen Anfang dieses Jahrhunderts wirksam wurden, fühlten sich die lokalen Stützen der Gesellschaft ihres Rechts auf unmittelbare Rechtsprechung beraubt. Und selbst der widerwärtigste Täter, der nicht mehr aufbietet als einen gelangweilten Pflichtverteidiger, kann sein Verfahren ein oder zwei Jahre hinausziehen, während seine Opfer oder ihre Angehörigen nicht schlafen können.

Wer all das in Betracht zieht, muß zu dem Schluß kommen, daß die sich häufenden Gesetzesänderungen zur Erleichterung von Hinrichtungen eine entscheidende Wende beinhalten. Aufgrund einer Entscheidung des neubesetzten Obersten Gerichts kann ein zum Tode Verurteilter, der Beweise für seine Unschuld hat, trotzdem hingerichtet werden – wenn er sie nämlich nicht innerhalb einer festgesetzten Zeit vorgelegt hat. Selbst der letzte, hollywoodreife Begnadigungsakt des Gouverneurs-Telegramms in allerletzter Minute wird damit abgeschafft.

Häufige Hinrichtungen werden enttäuschen

Die neue Mehrheit im Kongreß möchte auch den Revisionsprozeß beschneiden, da er zu bürokratisch sei, alles zu sehr verzögere und den Anwälten zu viel Raum für Manöver lasse. Angesichts solcher Veränderungen wird die Beliebtheit der Todesstrafe einem ganz neuen Test ausgesetzt, den sie Generationen lang nicht mehr zu bestehen hatte. Bisher nämlich bezog sie ihre populäre Kraft, wie fast alle anderen sogenannten „Abschreckungsmaßnahmen“, daraus, daß sie kaum angewandt wurde. Ihre Ausbreitung, wie sie unter kräftiger Mithilfe des Obersten Gerichts und des Kongresses schon stattfindet, kann nur zu Enttäuschungen führen. Denn ihre Widersprüchlichkeit wird sich immer deutlicher zeigen: Hier wird ein brutaler Mörder durch die Maschen schlüpfen und dort ein eher linkischer Totschläger auf den elektrischen Stuhl kommen. Es ist unvermeidlich, daß Unschuldige erschossen werden und durch tödliche Injektionen umkommen. Und auch die Kosten des Systems „death row“, des jahre- und manchmal jahrzehntelangen Wartens in den Todeszellen, und die immer erneute Beschäftigung der Justiz mit den Verurteilten durch alle Instanzen sind sehr viel höher, als mancher ahnt, und werden spürbarer werden. Und vor allem wird sich mit den beschleunigten Verfahren (und je schneller sie sind, desto weniger Probleme machen wiederaufgenommene Verfahren...) ein kultureller Konflikt zuspitzen, der zwischen dem übertriebenen amerikanischen Respekt vor dem „legalen Gang der Dinge“ einerseits und andererseits dem politischen Bedürfnis Amerikas existiert, sich einem fast religiösen Glauben an Sinn und Nutzen „harter Strafe“ hinzugeben. Wie Thomas Grasso, dem Herr Pataki die erwünschte Hinrichtung verschaffte, wird vielleicht mancher Populist mit Schrecken feststellen müssen, daß er wirklich kriegt, was er haben wollte.

Christopher Hitchens ist Kolumnist von The Nation und Vanity Fair.