Weiße Afrikaner, schwarze Europäer

Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Kolonialherrschaft leben im portugiesischen „Mutterland“ viele Einwanderer aus Afrika – zwischen Rassismus und Wahrung ihrer eigenen Identität  ■ Aus Lissabon Theo Pischke

Die Kranken zuerst. Manuela Sequeira von der Guineanischen Vereinigung für soziale Solidarität und ihre zwei Helferinnen packen 39 große rote Plastiktüten voll mit Margarine, Mehl, Zucker, Nudeln, Reis, H-Milch. Das Nötigste. Später wird es an Kranke verteilt, die nicht kommen können. Vor der Tür der Solidaritätsvereinigung im zweiten Stock eines Wohnsilos im Lissabonner Stadtteil Chelas warten schon die Gesunden: drei Dutzend Frauen und Kinder, deren temperamentvolles Stimmengewirr auf- und abschwillt. Die meisten von ihnen stammen aus Afrika, aus den einstigen portugiesischen Kolonien Angola, Mosambik, Kap Verde, Guinea-Bissau oder São Tomé und Principe. Doch auch einige Weiße sind gekommen. Jeweils zu viert werden sie hereingelassen und nehmen dann ihre Lebensmitteltüte in Empfang.

Manuela Sequeira fragt nach Name, Adresse und Anzahl der im Haushalt lebenden Personen. Immer sind es fünf, sechs oder mehr. Dann noch die Unterschrift. Margarida Silva kann das nicht. Schreiben hat sie nie gelernt. Und auf die Frage nach dem Namen ihrer Straße zuckt sie bloß mit den Schultern. Sie wohnt in einer Baracke aus Blech, Balken und Backsteinen am Rande von Chelas. Straßen gibt es dort nicht. Bloß ausgetretene Lehmwege. Die haben keine Namen. Margarida Silva weiß auch nicht, wie alt sie ist. Vielleicht 50, vielleicht 60. Ihr Mund ist zahnlos, ihr schwarzweiß karierter Rock ist schmutzig, ihre schwarzen Bastschuhe sind zerrissen.

Vor dem Eingang wird die Traube der Wartenden nicht kleiner. Und am Ende des Vormittags sind es 134 Menschen, denen die Guineanische Solidaritätsvereinigung die Sorge um die nächste Mahlzeit abgenommen hat. Die Speise stammt von der „Lebensmittelbank gegen den Hunger in Lissabon“, einer Organisation, die mit Hilfe von Spenden Nahrungsmittel beschafft und an Arme verteilt. 1993 insgesamt 810 Tonnen.

Doch Fernando Ká, der Vorsitzende der Guineanischen Solidaritätsvereinigung, sieht sich nicht bloß als Lebensmittelverteiler. Sein Verein veranstaltet auch Alphabetisierungskurse, Nähunterricht und Gesundheitserziehung. Auch erhalten afrikanische Einwanderer juristische Unterstützung bei Auseinandersetzungen mit Arbeitgebern und prügelnden Polizisten. „Einer unserer Jugendlichen ist von einem Polizisten so geschlagen worden, daß er auf einem Auge blind ist. Wir haben den Polizisten angezeigt und auf Entschädigung verklagt“, erzählt Ká.

Fernando Ká kam 1968, zur Zeit der Salazar-Diktatur, aus Guinea- Bissau nach Portugal. „Ich bin als Portugiese geboren“, sagt er. Guinea-Bissau war damals eine portugiesische „Überseeprovinz“. Und Portugals Diktator António de Oliveira Salazar wurde nicht müde zu behaupten: „Wir sind auch eine afrikanische Nation.“ Den Schulkindern wurde eingetrichtert: „Portugal ist mehr als Europa.“ Und zum Beweis dafür wurde in den Schulbüchern eine Skizze abgebildet, auf der die Umrisse der Kolonien in Afrika mit Portugal zusammenmontiert waren. Das so entstandene Staatsgebilde wurde dann über eine Europakarte gelegt. Auf dieser Propaganda-Landkarte war Portugal nicht mehr der klitzekleine Staat an der äußersten europäischen Südwestecke, sondern ein Riesenreich, das die Fläche halb Europas bedeckte.

Nach der Nelkenrevolution am 25. April 1974, die auch den Kolonien die Unabhängigkeit brachte, kehrten nicht nur Zehntausende weiße Kolonisten heim ins „Mutterland“. Es kamen auch viele Afrikaner nach Portugal. 20 Jahre später lebt die große Mehrheit der afrikanischen Einwanderer noch immer am Rande der Gesellschaft, in den Vorstädten und Slums von Lissabon.

Fernando Ká ist auch Abgeordneter des portugiesischen Parlaments. Als einziger Parlamentarier schwarzer Hautfarbe. Im Parlament will er die Stimme der Immigranten sein, will ihren Forderungen Gehör verschaffen. Es kommt selten vor, daß Afrikaner in Portugal etwas fordern. „Die Portugiesen mögen das nicht. Sie sagen dann gleich: ,Geht doch dahin, wo ihr hergekommen seid‘“, sagt der schwarze Rap-Sänger General D, der vor 23 Jahren in Mosambik geboren wurde. Als er zwei war, kam er mit seinen Eltern nach Lissabon. Jetzt kürte ihn die Wochenzeitung O Independente zum „ersten portugiesischen Rapper“. Seine jüngste Platte heißt „Portukkkal“. Mit drei k. Wie Ku-Klux-Klan.

Viele Portugiesen meinen noch immer, in ihrem Land sei Rassismus kaum verbreitet. In der Tat: Eine straff organisierte Nazi- und Rassistenbewegung gibt es nicht. „In Deutschland oder England hat der Rassismus ein Gesicht“, meint General D. „Hier nicht. Und das ist gefährlich. Man muß offen sagen, daß es Rassismus gibt, um ihn bekämpfen zu können.“

Portugal tut sich schwer mit der Integration der Menschen aus den „palops“, den „países africanos de lingua oficial portuguesa“, den fünf Ländern Afrikas, in denen Portugiesisch nach wie vor Amtssprache ist. „Wenn Integration nicht mehr bedeutet als leben und leben lassen, dann ist sie vielleicht geglückt. Doch wenn man darunter versteht, teilzunehmen am gesellschaftlichen und politischen Leben, an Ausbildung und am Arbeitsplatz, dann ist die Integration nicht gelungen“, meint die deutsche Sprachforscherin Litwinoff.

Sie leitet seit vier Jahren ein zweisprachiges Bildungsprojekt für Kinder im Vorschulalter im Slum Pedreira dos Húngaros vor den Toren Lissabons. In Baracken leben dort rund 3.500 Menschen, 90 Prozent davon Einwanderer aus Kap Verde. Kreolisch, die Umgangssprache auf den Kapverden, hat „viele Pseudoähnlichkeiten mit Portugiesisch“, erläutert Raja Litwinoff. „Die Lehrer glauben anfangs, die Kinder würden Portugiesisch können, doch wegen der unterschiedlichen Grammatik bekommen sie schon bald Schwierigkeiten bei den Aufsätzen“, sagt sie. „Dann heißt es einfach, afrikanische Kinder seien dumm.“

Musik ist eine Sprache, die jeder versteht. Und in Lissabon finden Bands und Sänger aus Angola und Kap Verde wie Bonga, Waldemar Bastos und Dany Silva die Auftritts- und Produktionsmöglichkeiten, die sie in ihrer Heimat selten haben. Sara Tavares, Kind kapverdischer Eltern, vertrat Portugal beim Europäischen Schlagerfestival 1994. Und in den zahllosen afrikanischen Tanzbars und Diskotheken Lissabons wird getanzt bis in den frühen Morgen.

„Afrikaner leben viel nachts“, sagt der Schauspieler Miguel Hurst. Er hat eine wahrhaft multikulturelle Biographie. In Deutschland, in Freiburg, wurde er geboren. Sein Vater ist Angolaner, seine Mutter stammt aus Guinea- Bissau. Anfang der sechziger Jahre war Hursts Vater einer der wenigen Schwarzen aus der Kolonie Angola, die im damaligen Portugal der Salazar-Diktatur studieren durften. Er begann ein Medizinstudium in Lissabon, fing aber zugleich an, sich politisch zu engagieren, in afrikanischen Studentenzirkeln, die für die Befreiung ihrer Heimat von der Kolonialherrschaft eintraten. Die Geheimpolizei verhaftete ihn kurz darauf, er landete im Gefängnis, konnte fliehen, ging nach Ghana und schloß sich dort der gerade gegründeten Organisation Afrikanischer Studenten an.

Der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) ermöglichte Hursts Vater die Reise nach Deutschland. In Freiburg nahm er sein Medizinstudium wieder auf. Dort wurden seine vier Kinder geboren. Miguel, heute 27 Jahre alt, ist das jüngste. Die Familie zog um nach Greifswald, damals DDR, als Miguel vier war. Das bundesdeutsche Stipendium für seinen Vater reichte nicht für eine sechsköpfige Familie. In der DDR gab es großzügigere Unterstützung für Studenten aus afrikanischen Ländern wie Angola und Guinea-Bissau, wo sozialistische Guerilla-Bewegungen gegen „imperialistische Kolonialmächte“ kämpften.

In Greifswald studierte Miguel Hursts Vater zu Ende und arbeitete dann als Chirurg im Krankenhaus. Die Hursts haben in der DDR den Tag herbeigewünscht, der das Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft in Afrika brachte. Als er kam, ging die Familie nach Guinea-Bissau. [Interessant. Und was tat in der ganzen Zeit Miguels Mutter? Hat sie sich „nur“ um Haushalt und „Aufzucht“ der Kinder gekümmert und ist deshalb nicht erwähnenswert? Warum ist die Biographie des Vaters wichtiger als ihre? Daß man(n) Schwarze nicht am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben läßt, ist eine Sache, daß man(n) Frauen aus dem gesellschaftlichen (und familiären – „dort wurden seine vier Kinder geboren“) Leben wegdenkt, die andere. d. sin]

Miguel Hursts drei Geschwister sind zum Studium wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Er selbst machte eine Schauspielausbildung in Lissabon. Heute ist er einer von acht schwarzen Berufsschauspielern in Portugal, Teil einer kleinen schwarzen Elite, gut ausgebildet, erfolgreich. Die Portugiesen erlebt er überwiegend als „freundlich“. Denn der Kontakt Portugals zu Afrika sei „weltalt“. Es gebe Zehntausende von Portugiesen, „die schon in Afrika waren, die in Angola, in Mosambik gelebt haben“, sagt er.

„Es ist paradox“, meint Miguel Hurst. „Die Portugiesen haben sich immer mit Afrikanern vermischt. Doch gleichzeitig haben sie afrikanische Kultur mißachtet und geringgeschätzt. So gab es in den portugiesischen Kolonien nur ganze zwei Anthropologen, die über Afrika geforscht haben.“

In den Lissabonner Schwarzenghettos versuchen die Menschen, ein Stück Tradition ihrer Heimat zu bewahren. Etwa die Frauen aus dem Viertel Cova da Moura, die den „Batuque“ pflegen, das rhythmische Trommeln mit den Handflächen auf den Oberschenkeln. Diese nur von Frauen in Gruppen gespielte Trommelmusik kommt ursprünglich von der kapverdischen Insel São Tiago.

Der Schauspieler Hurst will demnächst mit seinem Kollegen Angelo Torrese aus São Tomé ein Stück des südafrikanischen Autors Athol Fugard inszenieren. Fugard ist weiß. Für Hurst nichts Ungewöhnliches: „Ich kenne weiße Afrikaner und schwarze Europäer.“ Und er selbst, was ist er? Hurst stutzt, zögert – und lächelt: „Ein Lissabonner.“