Vom Bär beschlichen

Kino großer und größter Gefühle: „Legenden der Leidenschaft“ von Edward Zwick  ■ Von Andrea Kern

Es sei so schwer, vom Glücklichsein zu erzählen, heißt es an einer Stelle des Films, als das Glück schon besiegelt und das Happy- End zum Greifen nahe scheint. Da aber wendet sich das Blatt noch einmal und nicht zum letzten Mal, bis uns am Ende nur mehr eine Geschichte vom Unglücklichsein bleibt.

Eine allertraurigste Liebesgeschichte ohne Wenn und Aber. Ungeniert und unter Anwendung aller fairen und unfairen Mittel, die das Kino zur Verfügung hat, wird das Gemüt der Zuschauer bis zum Anschlag strapaziert. „Legenden der Leidenschaft“ ist Kino der Gefühle, mindestens so herzzerreißend wie es damals war, als die Liebe zwischen Vivian Leigh und Clark Gable vom Winde verwehte.

Hier pfeift der Wind durch die Rockies von Montana, in denen einsam und allein die Ranch von Colonel Ludlow (Anthony Hopkins) und seinen drei Söhnen mitten in das idyllische Grün einer noch unberührten Landschaft ragt. Die Handlung, die sich grob an einer gleichnamigen Erzählung von Jim Harrison orientiert, spielt in einer Zeit, in der die Frauen noch lange weiße Kleider mit Spitzenbesatz tragen, während sie über Wiesen spazieren, und in der die Männer noch mutig mit der blanken Hand über Grislybären triumphieren.

Wenige Monate vor dem Ersten Weltkrieg kehrt Ludlows jüngster Sohn Samuel (Henry Thomas) mit seiner Verlobten Susannah (Julia Ormond) vom Studium in Harvard auf die Ranch in der Prärie zurück, auf der außer dem Vater und den beiden Brüdern Alfred und Tristan nur noch der Indianer One Stab, der uns das Familienepos im Rückblick erzählt, und eine Hundertschaft von Warmblütlern lebt. Julia Ormond, die zuletzt bei Greenaway für das Wunder von Maçon zuständig war, spielt als Susannah eine junge Frau, die nun selber fast ein Wunder ist. Denn ausnahmslos alle wünschenswerten Eigenschaften, die man sich nur vorstellen kann, versammelt die Schöne auf sich. Sie ist ernst und verständnisvoll, wenn die Brüder sie um Rat bitten, dann wieder ausgelassen wie ein kleines Kind, das auf der Ranch gerade seine Ferien verbringt. In Nullkommanix lernt die Dame, wie man mit dem Lasso entlaufene Pferde einfängt und wie man mit schweren Pistolen auf Zielscheiben schießt. Sie lacht und scherzt und weint und tröstet und neckt. Egal was sie tut: Sie tut es mit Lust und Leidenschaft.

Sie ist so durch und durch auf wunderbar getrimmt, daß ihr die drei Bruderherzen bald mit der Logik von Dominosteinen vor die Füße fallen. Der gewohnt wohltemperierte und ins Charmante versteifte Hopkins hält sich dabei vornehm zürück. Denn Regisseur Edward Zwick, der sich bislang mit amerikanischen Fernsehserien („Family“, „Thirtysomething“) hervorgetan hat, hat seine Wald- und-Wiesen-und-Liebes-Geschichte in die Form eines klassischen Bruderzwists gebracht und damit ins Schicksalhafte gestimmt.

Nach Samuels tödlichem Abgang als Freiwilliger auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs ist die Bahn auch schon frei für den Kampf der beiden Übriggebliebenen um die Auserwählte. Alfred, der Ältere, den Aidan Quinn als einen tadellos eleganten und hübsch anzusehenden jungen Mann spielt, der bevorzugt in teuren Anzügen sein Pferd besteigt, legt die Karten auch bald auf den Tisch und hält noch an Samuels Grab um Susannahs Hand an. Susannah indes hat sich nicht in den aparten Alfred, sondern unverständlicherweise in das Kraftpaket Tristan verliebt, den Brad Pitt als einen braungebrannten Naturburschen spielt, der mit einem Mann so wenig zu tun hat wie eine Dose Kekse. Von One Stab wie von einem zweiten Vater aufgezogen, ist er im Wald mit den Bären groß geworden. Das ungekämmte Prachtexemplar scheint so eine Art entfernter Verwandter von Jodie Fosters „Nell“ zu sein; die amerikanische Phantasie von der unschuldigen Natur, die es als unser aller Wurzel zu bewahren gilt. Denn nicht nur unschuldig ist die Natur, sondern auch gut: So ist Tristan der einzige, der in einem Saloon mutig gegen den Wirt einschreitet, weil der Kerl sich weigert, dem Indianer ein Bier auszuschenken.

Entsprechend gleicht die Liebe zwischen Tristan und Susannah mehr einer gewaltigen Naturmacht als einer irgendwie einsehbaren Angelegenheit zwischen zwei Menschen. Sie ist ein großes Gefühl zwischen Busen und Bauch, das seinen Ausdruck allein in langen stummen Augenblicken und heftigen Umarmungen finden kann. Zu begreifen gibt es an dieser Liebe nichts, sie ist einfach da und nimmt hemmungslos die Seelen und Körper in Besitz. Wenn die Kamera die Liebe der beiden filmt, erstickt sie fast im eigenen Pathos. Im Kino der Gefühle macht die Liebe keinen Sinn, sondern einen Eindruck.

Als Tristan eines Tages sein Pferd sattelt und die Ranch ohne irgendeine Erklärung verläßt, findet allein One Stab einen überzeugenden Grund: „Ein Bär ist in ihn geschlichen.“ Jahre vergehen, während Tristan irgendwo zwischen Kreta und Neuguinea umherirrt.

Für Sekunden sieht man Ausschnitte aus der Welt jenseits der Ranch: Tristan als Großwildjäger, Tristan als Hippie im Opiumrausch. Bis die schlimme Nachricht bei Susannah einläuft: „Alles, was wir hatten, ist tot. So tot wie ich!“ Da kommt endlich auch Alfred als letzter ans lang ersehnte Ziel. Doch als der holde Jüngling ebenso kommentarlos, wie er verschwand, wohlbehalten wieder in Montana einreitet und die Geigen auf der Tonspur sich tausendfach überschlagen, da durchfährt die beiden ihre Liebe abermals, ohne Grund, ohne Worte, aber groß und mächtig. Der Bär ist fortgeschlichen, doch zu spät. Für Susannah und Tristan gibt es das Glück ebensowenig wie für Scarlett O'Hara und Red Butler. Warum, das versteht man nicht. Aber Kino will nicht verstanden, sondern erlitten werden. Am Ende bleibt hier wie dort, daß der Zuschauer auf seinem Kinosessel hinwegschwimmt und den Schluß mit sich und seinem Taschentuch ausmachen muß. Und selbst wer bei Scarlett noch heldenhaft tapfer war: Hier kommt garantiert keiner ohne feuchte Augen davon.

„Legenden der Leidenschaft“. USA 1994, Regie: Edward Zwick, mit Brad Pitt, Anthony Hopkins, Aidan Quinn, Julia Ormond, Henry Thomas, 133 Min.