Wahre Optimisten

■ betr.: „Kanthers Erkenntnisse“, taz vom 17. 3. 95

Nachdem der Bundestag nicht gewillt oder nicht in der Lage gewesen sei, die Auslieferung von kurdischen Flüchtlingen an ihre Verfolger zu stoppen, so Jürgen Gottschlich gegen Ende des Kommentars, sei nun „die Gesellschaft“ gefordert. Es gibt offensichtlich noch wahre Optimisten in der taz- Redaktion [...]. Ja wenn diese „Gesellschaft“ nur aus taz-lesenden Mitgliedern bestehen würde, dann wäre ein solch gutgemeinter Appell mit Sicherheit nicht umsonst zu Papier gebracht worden. Da wir aber nun einmal in einem Land leben, dessen spießbürgerliche, denkfaule und konsumgeile Bevölkerungsmehrheit sich einen Dreck für das Schicksal sozialer Randgruppen interessiert, wird die in Bonn beschlossene und verkündete Deportation asylsuchender KurdInnen reibungslos über die Bühne gehen.

Keine kilometerlangen Lichterketten oder sonstigen Massendemonstrationen, keine Mahnwachen oder Briefaktionen (Schreiben Sie Ihrem Abgeordneten!), keine Sondersendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und keine Extraseiten in den Tageszeitungen werden die Verantwortlichen auf den Unmut des Volkes wegen ihrer menschenverachtenden Abschiebebeschlüsse hinweisen – weil es diesen Unmut nämlich gar nicht gibt!

Bekanntlich hat in dieser Republik noch nie die Mehrheit des Wahlvolkes daran Anstoß genommen, daß die wenigen Rechte, die Flüchtlinge genießen, von sich „christlich“ nennenden PolitikerInnen beständig ausgehöhlt werden, daß abgelehnte AsylbewerberInnen in der Abschiebehaft aus Verzweiflung über ihre Situation oder aus Angst vor dem, was sie in ihrem „Heimatland“ erwartet, sich das Leben nehmen.

Otto und Ottilie Normalverbraucher ist es auch scheißegal, ob in dem Land, das sie sich als Ziel für ihre Sommerurlaubsreise ausgesucht haben, für die einheimische Bevölkerung die Menschenrechte gelten. Solange dort nur die Sonne scheint, der Service gut ist und die Preise stimmen, verschwendet der/die erholungssuchende Durchschnittsdeutsche keinen Gedanken an die politischen Verhältnisse in seinem „Ferienparadies“. Wenn viele dieses Jahr nicht in die Türkei fahren, dann nicht, weil dort KurdInnen massakriert werden, vielmehr weil diese ZeitgenossInnen um die eigene Gesundheit fürchten.

Wahlen werden hierzulande, wie sich mittlerweile herumgesprochen haben sollte, von der/den Partei(en) gewonnen, von der/denen sich die Mehrheit persönliches wirtschaftliches Wohlergehen verspricht. Ob diese Partei(en) sich auch für die weltweite Einhaltung der Menschenrechte engagieren, ist für die große Masse des Wahlvolkes von untergeordneter Bedeutung. Kein Geringerer als Friedrich Schiller hat bereits vor zweihundert Jahren erkannt, daß gegen Dummheit selbst Götter vergebens kämpfen. Gegen politische Gleichgültigkeit ebenfalls, würde er heute hinzufügen. Uwe Tünnermann, Lemgo