Kein Lebenszeichen von Wei Jingsheng

■ Chinas prominentester Dissident ein Jahr „verschwunden“ / Nobelpreis für Wei?

Peking/Berlin (AFP/taz) – Am Samstag ist es genau ein Jahr her, daß der chinesische Dissident Wei Jingsheng auf dem Weg von der Stadt Tianjin nach Peking von der Polizei in seinem Auto gestoppt und in einem anderen Fahrzeug weggebracht wurde. Seitdem fehlt von ihm so gut wie jede Spur. Als er „abgeholt“ wurde, war der heute 45jährige Wei gerade erst ein halbes Jahr in Freiheit, nachdem er über vierzehn Jahre lang im Gefängnis und Arbeitslager verbracht hatte.

„Wir sind jetzt wirklich beunruhigt“, sagt Wei Ling, die Schwester des mittlerweile 45jährigen. „Seit seiner Festnahme haben wir ihn nicht wiedergesehen, und es ist jetzt neun Monate her, daß wir zuletzt etwas von ihm gehört haben.“ Seitdem hat die Familie kein einziges Lebenszeichen von ihm erhalten, die Polizei hat keine Anfrage über sein Schicksal beantwortet.

Wei war wegen seiner führenden Rolle im „Pekinger Frühling“ Ende der siebziger Jahre in einem Schauprozeß zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er hatte den besonderen Zorn Deng Xiaopings auf sich gezogen, weil er nicht nur die politische Demokratisierung in China forderte, sondern auch Machtmißbrauch und Willkürherrschaft der Parteiführer anprangerte – und dabei Deng selbst nannte. Im September 1993 – Peking bewarb sich gerade für Olympia 2000 – war Wei ein halbes Jahr vor Ablauf seiner Strafe freigelassen worden.

Begründet wurde seine zweite Festnahme damit, daß Wei „neue Verbrechen“ begangen habe. Damit ist wohl gemeint, daß er sich im Februar 1994 mit dem US-Unterstaatssekretär für Menschenrechtsfragen, John Shattuck, getroffen hatte und in ausländischen Publikationen regimekritische Artikel veröffentlichte. Eine Anklage wurde bislang jedoch nicht erhoben. Seit dem „Verschwinden“ Weis sind mehrere führende Dissidenten ohne Prozeß zu Arbeitslager oder zu Gefängnisstrafen bis zu 20 Jahren verurteilt worden.

Im vergangenen Jahr erhielt Wei den Robert Kennedy- und den Olof Palme-Preis für seinen mutigen Einsatz für die Menschenrechte in China. Als 58 US-Kongreßabgeordnete in diesem Jahr die Nominierung Wei Jingshengs für den Friedensnobelpreis unterstützten, reagierte die Pekinger Regierung höchst ärgerlich.

Zur Unterstützung der internationalen Kampagne für die Freilassung Weis hat die „Internationale Vereinigung zur Verteidigung verfolgter Künstler (AIDA)“ in Hamburg eine sehr sehenswerte Ausstellung mit Werken chinesischer Künstler der Demokratiebewegung organisiert. Adresse: Kleine Rainstr.1, Hamburg-Ottensen, Tel: 395055