Was kommt nach Deng?

■ Dissidenten wollen "demokratischen Weg, der für China realisierbar" ist / Wird Tiananmen bald offiziell neubewertet?

Peking (taz) – Seitdem er im letzten Jahr wegen seiner Krebserkrankung vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, ist der prominente chinesische Dissident Chen Ziming ein Gefangener in seinem eigenen Haus. Chen, den die Regierung in Peking als einen der führenden Köpfe der Demokratiebewegung von 1989 ausgemacht hatte, war zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ohne offizielle Genehmigung darf er heute nicht auf die Straße. Eine Ausgeherlaubnis bekommt er nur für Besuche bei seinen Eltern, beim Arzt oder bei einigen ausgewählten Büchereien und Buchläden. Seine Wohnung im Pekinger Universitätsviertel Haidian wurde zeitweilig schon von 56 Polizisten auf einmal bewacht. Und seine Frau muß sich jeden morgen an den Sicherheitsleuten vorbeischlängeln, die ihr Lager buchstäblich im Türeingang aufgeschlagen haben.

Doch trotz des erzwungenen Exils im eigenen Land hat sich Chen laut Aussage seiner Frau Wang Zhihong von der politischen Bühne noch lange nicht verabschiedet. Da Chen glaubt, daß eine pluralistische, durch eine Verfassung geschützte Demokratie „nur eine Frage der Zeit ist“, hat er zusammen mit anderen Aktivisten ein Forschungsprojekt begonnen, um „einen demokratischen Weg zu finden, der mit den Bedingungen in China realisierbar ist“. Nachdem ihn chinesische Universitäten abwiesen, promoviert er jetzt an der University of Michigan.

Obwohl sie in der Öffentlichkeit zum Schweigen gebracht wurden, debattiert ein kleiner harter Kern von chinesischen Dissidenten über ihre Rolle nach dem Tod Deng Xiaopings – des Mannes, der China mit dem Öffnen der Märkte revolutionierte, Kritik und Infragestellung seiner Macht jedoch brutal unterdückte. „Wenn demokratische Gruppen sowohl inner- wie außerhalb Chinas sich nicht mehr länger auf einen starken Mann verlassen, und ihre eigenen, unabhängigen Standpunkte formulieren, wird kaum ein neuer oberster Patriarch entstehen können“, zitiert Frau Wang die Visionen ihres Mannes. „Wir müssen klar machen, daß eine allmähliche Demokratisierung nicht zwangsläufig zu einem wirtschaftlichen Durcheinander führen wird, aber auch, daß Demokratie kein Allheilmittel für sämtliche Krankheiten ist“, sagt sie weiter. „Wir sind für eine gewaltlose, legale Opposition und wenden uns gegen die gewalttätige Revolution, die von der kommunistischen Kultur befürwortet wird.“

Staatspräsident Jiang Zemin, der zugleich die Posten des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas (KPCH) und der Zentralen Militärischen Kommission bekleidet, ist der Kopf einer vorläufigen Führungstruppe, die die Nachfolge Dengs antreten soll. Dazu zählen auch Premierminister Li Peng, der Wirtschaftspolitiker Zhu Rongji und Qiao Shi, ein ehemaliger Sicherheitschef, der das zunehmend aktiver werdende chinesische Parlament leitet.

Doch chinesische Aktivisten bezweifeln, daß der wenig charismatische Parteichef Jiang sich lange halten kann. Unruhen auf dem Lande, verstärkte Schwierigkeiten der staatlichen Unternehmen, Unzufriedenheit der Arbeiter oder andere Unwägbarkeiten könnten einen Machtkampf in der Partei auslösen.

Was die chinesischen Behörden besonders verunsichert, ist der Versuch der Dissidenten, Dengs Rolle in China neu zu definieren. Anfang Februar beschlagnahmten die Behörden einen kritischen Bericht über Deng Xiaoping, den der demokratische Aktivist Lin Mu aus Xian in der Provinz Shaanxi geschrieben hatte. Tatsächlich glauben viele Dissidenten, daß die Parteiführung die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 möglicherweise neu bewerten könnte.

In einem kürzlich veröffentlichten Interview mit der New York Times verteidigte Dengs Tochter Deng Rong zwar die damaligen Befehle ihres Vaters an die Armee, auf die Demonstranten zu schießen, nannte sie aber dennoch eine „Tragödie“ und deutete die Möglichkeiten von Entschädigungen an.

Ihre Bemerkungen, sagte ein hochrangiges Parteimitglied, der seinen Job als Journalist nach dem 4. Juni 1989 verlor, haben die Ereignisse von damals wieder ins Rampenlicht gebracht und den Druck auf die oberste Führungsspitze erhöht. „Jiang Zemin und die anderen wollen Deng für alles die Schuld in die Schuhe schieben“, sagt er. „Dengs Kinder sind sich bewußt, daß sein Ruf sich verschlechtert hat. Für ihre eigene Zukunft ist es unerläßlich, daß sie ihn vor seinem Tod wieder zurechtrücken.“ Sheila Tefft