: Chiloé liegt bei Feuerland
■ Bremer Buchlese (9): Nora Becker Alvarez schreibt Geschichten über die Wundergestalten ihrer Kindheit und glaubt an den Sieg der Sinnlichkeit
„Schreiben Sie meinen Namen richtig“, sagt Nora Becker Alvarez zur Begrüßung – und schon gleitet sie lästerlich über die Bindestrich-Reihungen deutscher Nachnamen hinweg nach Chiloé, auf diesen südchilenischen Archipel, wo gerade jetzt, im März, der Winter aufzieht. Wir landen vor 40 Jahren, bei Vater Becker, Mutter Alvarez und der kleinen Nora, dem neunten von zwölf Kindern: Einer von vielen Geschichtenerfinderinnen unter der Sonne Feuerlands – und auch unter dem Mond. Mit zwei Schwestern vertuschelte Nora schon damals halbe Nächte und beratschlagte, ob man die Sterne wohl greifen könnte, wenn alle Dinge dieser Welt nur übereinandergetürmt würden.
Die Wurzeln von Noras Phantasien lagen in den mystischen Überlieferungen des chilenischen Südens, wo sich die alten indianischen Legenden mit den Eingebungen der Erzählenden vermischten – so vielgestaltig, daß selbst das Mädchen Nora manchmal zweifelte: Ob die streitbaren Schlangen Caicaivil und Tentenvil wirklich die Erde geschaffen hatten, wie der indianische Schöpfungsmythos behauptete? Und ob es wahr sei, daß der häßliche, aber unwiderstehliche Gnom namens Trauco der Vater aller unehelich geborenen Kinder ist?
Sicher war nur, und das gilt bis heute, daß neben alten Familienoberhäuptern sogar die katholische Kirche vor der Trauco-Legende in die Knie ging. „Auf Chiloé hat man die Einsicht gewonnen, daß Erotik nicht zu bannen ist“, resümiert Nora Becker Alvarez lachend. Unvermittelt nüchtern sagt die studierte Sozialwissenschaftlerin dann: „Integrieren statt Spalten.“ Dieser Linie ihrer Kindheitsmythen folgen die Geschichten, die sie selbst schreibt – aber eigentlich viel schöner erzählt.
Viele Gestalten aus Chiloé tauchen darin auf; einem zeitgenössischen Trauco beispielsweise sind 23 Seiten ihrer deutsch-spanischen Geschichtensammlung gewidmet – aber wie bedrückt ist der alte Verführer, weil der feuchte Urwald Südchiles, seine Heimat seit Urtagen, abgeholzt wird. Die Folgen sind nicht nur ökologisch: „Was wird mit dem Trauco ohne Wald? Was werden die armen Mädchen ohne den Trauco machen? Und was die Menschen, wenn mit dem Wald auch die Mythen sterben?“ Das sind die Fragen einer Geschichtenerzählerin, die von sich selbst sagt: „Wenn ich die Erzählungen Chiloés nicht gekannt hätte, wäre ich schon vor 20 Jahren verrückt geworden.“
Damals war Nora Becker Alvarez 23 Jahre alt, Pinochets Militärs hatten die Studentin ins Gefängnis gebracht. Als sie 1976 nach zweieinhalbjähriger Haft ins deutsche Exil entlassen wurde, waren die mystischen Geschichten aus Chiloé neben die Parolen der politischen Bewegung gerückt: „Diese Mythen sind älter, noch aus einer Zeit, bevor die ganzen Ideologien zur Welt kamen.“ Das gab Kraft. „Sonst waren doch alle Werte zerbrochen. Wichtig war nur, ob du überlebst.“ Zum ersten Mal im Leben mußte die junge Chilenin schweigen: „Alles, was andere von dir wußten, konnte gefährlich werden.“
Über diese Jahre spricht die Schriftstellerin heute nur mit Zurückhaltung, „denn jede Geschichte hat eine Hierarchie.“ Andere Menschen haben ihre politische Vergangenheit so oft in den Vordergrund gestellt, daß sie nun darauf besteht: „Ich bin viel mehr als das.“ Sie will nach vorne schauen und Utopien und Träume entwerfen. „Die fehlen den großen Theorien doch“. Eva Rhode
Die Geister leben um die Ecke/ Los Fantasmas viven es la esquina, Nora Becker Alvarez, Edition Brauer, Bremen 1994, 87 Seiten,.20 Mark
Bildunterschrift: Solche Stümpfe bedeuten Lebensgefahr für den Trauco. Ohne Wald ist der Vater aller unehelichen Kinder schutzlos.
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