Rabelais mit gebackenen Kutteln

■ Gegen die „Rinnsteinkultur“ mit „kalkuliertem Risiko“: Das neueröffnete Kulturhaus „Dorothea“ in Moabit lädt zum literarischen Bankett

Lediglich dank einer Indiskretion von Alfred Andersch wissen wir heute, daß Arno Schmidt nicht nur peinliche Goethe-Preisreden mit Vorliebe von seiner Frau Alice verlesen ließ, sondern sie daheim, in der Bargfelder Hütte, ebenfalls des öfteren zum Backen des „besten Butterkuchens der Welt“ (Andersch) nötigte, um damit seine Gäste zu beeindrucken. Ansonsten zeigt sich die Literaturwissenschaft hierzulande erschreckend uninformiert über das kulinarische Gebaren ihrer ArbeitgeberInnen.

Das könnte nun anders werden, dank der soeben im Bezirk Tiergarten neueröffneten „Kunststätte Dorothea“. In regelmäßigem Turnus sollen hier Schriftsteller neben den gewohnten Lesungen auch ihre Qualitäten als Kochkünstler unter Beweis stellen. Den Anfang wird im Sommer Walther Störer machen, wenn er aus Rabelais' „Gargantua und Pantagruel“ liest und dazu dem Publikum gebackene Kutteln (Innereien) serviert, ein Gericht, das in dem vorgelesenen Klassiker der französischen Renaissance eine Schlüsselrolle spielt.

Initiatoren des ehrgeizigen Projekts sind die Inhaber der Dorotheenstädtischen Buchhandlung in der Turmstraße in Moabit, nur zwei Häuser neben dem neuen Kunsthaus. Besonders unter Liebhabern des abgewickelten DDR- Buchs besitzt die Buchhandlung Kultstatus, da sie während der Wende in einem Anfall von Rettungswahn ganze Lagerbestände von Ostverlagen aufkaufte. Doch obwohl der Vertrieb dieser Büchermassen, die nun die Kellerräume bis zur Decke anfüllen, sich insgesamt eher zäh gestaltet, ist der karitative Tatendrang der Buchhändler ungebrochen. Im neuen Kunsthaus „Dorothea“ sollen demnach nicht nur unterernährte Schöngeister in den Genuß einer anständigen Mahlzeit gelangen. Vielmehr soll von hier der Kampf gegen die fortschreitende konservative Wende in der Kulturpolitik eröffnet werden. Mit Ausstellungen namhafter Künstler, Kabarettvorstellungen und Schauspieler- Lesungen soll auf wenigen Quadratmetern all jene Kultur einen angemessenen Raum finden, die neuerdings von offizieller Seite als „Rinnsteinkultur“ abqualifizert wird.

Um sich nicht von Haushaltsbeschlüssen und dem Willen der Politik abhängig zu machen, wird auf Senatsgelder von vorneherein verzichtet. Idealistische Buchhändler als moderne Mäzene? Laut Aussagen der Initiatoren arbeite man mit „kalkuliertem Risiko“. Das Kulturhaus wird so auf Unterstützung verschiedener Buchverlage angewiesen sein. Der Verlag von Enzensberger „Die Andere Bibliothek“ hat bereits angekündigt, vorübergehend eigens eine Druckermaschine in den Räumen von Dorothea zu installieren, um dort öffentlich die Herstellung der Buchreihe zu demonstrieren.

Doch Ernst Jünger wird auch seinen 101. Geburtstag kaum in diesen Räumen feiern dürfen. Der hauptberufliche Tagebuchschreiber disqualifizierte sich dafür bereits im Jahre 1943, als er im Anblick eines Fliegerangriffs auf Paris die kulinarische Entgleisung beging, Erdbeeren in seinem Burgunder zu schwenken. Noäl Rademacher

„Kunststätte Dorothea“, Turmstraße 4, Moabit, Informationen unter Telefon 3943047.