Silos für Literaturgetreide

In Paris wurde die von Dominique Perrault entworfene „Très Grande Bibliothèque“ eingeweiht. Mit 8 Milliarden Franc ist sie das teuerste Denkmal der Ära Mitterrand – und für Paris wohl für längere Zeit das letzte  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Groß, größer, très grand – denn sehr groß muß ein Bauwerk schon sein, damit Frankreichs Präsident François Mitterrand es auf das Programm der Monumente für seine Hauptstadt und seine Amtszeit setzte.

In seinen vierzehn Jahren an der Staatsspitze hat er so die Skyline und die Touristenrouten von Paris verändert. Er ließ die Glaspyramide für den Louvre bauen, das Wissenschafts- und Musikzentrum in den alten Schlachthöfen von La Villette, die neue Oper an der Bastille, den großen Bogen – „la Grande Arche de la Défense“ – über die Verlängerung der Champs Elysées und das Finanzministerium von Bercy, die Hochgeschwindigkeitszüge quer durch das Land und – als Krönung zum Schluß – die „Très Grande Bibliothèque“ am linken Ufer der Seine im Osten der Stadt.

Gestern abend weihte der Präsident die Bibliothek ein. Er schritt würdevoll durch die Hallen und Türme aus Holz, Glas und Metall, die für mehr als zehn Millionen Bände Bücher, Hunderttausende Periodika, Millionen Mikrofiches und mehrere tausend Leser konzipiert sind.

Es soll die „größte und modernste Bibliothek der Welt werden“, hatte er gesagt, als er den Startschuß für das Bauwerk gab, das die längst zu eng gewordene altehrwürdige Nationalbibliothek in der rue de Richelieu ersetzen soll. Die französische TGB sollte größer werden als die US-amerikanische Library of Congress und selbstverständlich auch größer als die British Library. Die Superlative sind Mitterrand gelungen – wenn auch nicht in der geplanten Bauzeit. Weil er die Einweihung aber nicht seinem Nachfolger überlassen wollte, schritt der Präsident gestern – nur wenige Wochen vor dem Ende seiner Amtszeit – durch gähnend leere Räume. Erst in den nächsten Jahren werden die Bücher und die Elektronik, an der gegenwärtig noch gearbeitet wird, einziehen. Ihren ersten Leser will die TGB Ende 1997 einlassen.

Entworfen hat die TGB der Shooting-Star unter den französische Architekten, Dominique Perrault.

1981, als Mitterrand im Elysee- Palast einzog, um das „Leben zu ändern“, eröffnete der heute 42jährige Architekt sein erstes Atelier in Paris. Natürlich hat er bei der TGB an Bücher gedacht, sagt er. Das viele Holz – drinnen wie draußen – soll an die materielle Herkunft des Buchs drinnern, die Türme der Bibliothek an aufgestellte, geöffnete Bücher.

Die vier 78 Meter hohe Türme bilden die Eckpunkte der TGB. Von ihren ursprünglich geplanten 100 Metern Höhe sind sie ein wenig geschrumpft. In ihnen sollen die 400 Kilometer Regale untergebracht werden, für die Bücher, die in den nächsten Monaten mit einer Lastwagenkarawane von der Pariser Innenstadt und von dem Außenlager der Nationalbibliothek in Versailles in das XIII. Arrondissement gebracht werden sollen. Die Türme, das sind für Architekt Perrault die Silos, in denen das Literaturgetreide lagert.

Zwischen ihnen – in dem nur für Gärntner zugänglichen Innenhof – hat er 250 ausgewachsene Bäume pflanzen lassen. Die künftigen Leser werden in die ausgedehnten Räume der unterirdischen Etagen geschickt. Dort können sie online am Computer – verbunden mit allen Bibliotheken des Landes – oder direkt am klassischen Buch arbeiten.

In der rue de Richelieu sollen nur noch alte Drucke, Photographien, Musikliteratur und Handschriften zurückblieben. Das Gros der Leser – Wissenschaftler wie Privatleute – wird in die TGB umziehen. 3592 Arbeitsplätze sind dort für sie geplant. Statt der Heimeligkeit verströmenden, stoffbezogenen Lampenschirme im überfüllten alten Lesesaal, erwartet sie die TGB mit schlichter Sachlichkeit in den Grundmaterialien des Gebäudes: Holz, Glas und Metall. Damit die Bücher in den Glastürmen nicht unter dem Sonnenlicht leiden, wurden die Türme holzverblendet. Auch die Esplanade vor der Bibliothek, die große Freitreppe und die Sitzbänke sind aus Holz gestaltet. Es kommt aus Kamerun, Gabun und Brasilien. Zwischen 4.000 Hektar Regenwald (offizielle Angaben) und 15.000 Hektar (Schätzungen der Umweltgruppe Robin des Bois – Robin Wood) wurden für die TGB abgeholzt. Die französische Regierung hatte es zeitgleich mit dem internationalen Umweltgipfel in Rio bestellt. Die Proteste von Umweltschutzorganisationen verhallten ungehört.

Frustrierend verliefen auch die Versuche, den alten Charakter des Stadtteils Tobliac zu retten, das einst das industrielle Kernland von Paris war. Zwischen den Fabriken lagen Arbeitersiedlungen, wo noch vor einer Generation Hühner in den Höfen gackerten. Die TGB hat die Skyline, des bis dato niedrig bebauten Quartiers völlig verändert.

Langfristig wird sie auch seine Bevölkerungsstruktur ändern. Wo heute noch eine Menge Lebenskünstler ausharren – wie die 150 Bildhauer, Maler, Musiker und Photographen, die sich hinter den 70 Zentimeter dicken Wänden des alten Kühlhauses, Les Frigos, niedergelassen haben – sollen in den nächsten 20 Jahren luxuriöse Stadtwohnungen am Flußufer entstehen.

Die TGB dürfte für lange Zeit das letzte „sehr große Bauwerk“ in Paris bleiben. Ihr Baupreis von rund acht Milliarden Franc (2,4 Milliarden DM) – womit die TGB zugleich das teuerste Denkmal der Ära Mitterrand ist – paßt nicht mehr in die französische Landschaft. Der finanzielle Spielraum für Mitterrands Nachfolger im Elysee-Palast ist enger geworden.