Die Pistole ersetzt die Peitsche

Ein Jahrhundert nach der Abschaffung der Sklaverei kämpfen in Brasilien die Nachfahren entflohener schwarzer Sklaven um ihr Land  ■ Aus Bom Jesus da Lapa Astrid Prange

Die Nachfahren geflüchteter Sklaven in Brasilien ziehen es vor, unter sich zu bleiben. „Ehen und Familien mit Außenstehenden oder Weißen bekommen unserer Gemeinschaft nicht, die Kinder aus diesen Verbindungen sind alle sehr merkwürdig“, meint „Seu Francisco“. Beim Anblick der beiden weißen Besucherinnen unterbricht der neunfache Vater für einen Augenblick seine Arbeit und setzt sich auf einen Baumstumpf vor seiner Hütte.

Da gibt es doch in den Elendsvierteln der Städte so junge Schwarze, erzählt er, die sehnen sich nach der „guten alten Zeit“, und dann reden sie daher, heute ginge es den Schwarzen doch viel schlechter als den Sklaven damals. „Ah, wer so was behauptet, der hat nicht gelitten“, tadelt der 63jährige „Seu Francisco“ seine schwarzen Brüder. Und als ob die Sklaverei gerade erst gestern abgeschafft worden sei, singt der Alte freudig einen Samba und klatscht dazu in die Hände: „Tanz, Neger, tanz, denn der Weiße kommt nicht mehr. Und wenn er kommt, ist ihm die Peitsche sicher.“

„Seu Francisco“ gehört zu den rund 500.000 direkten Nachfahren geflohener Sklaven, die in Brasilien noch bis heute in ihren entlegenen Verstecken, den sogenannten Quilombos oder Mucambos, leben. „Auf diesem Boden bin ich groß geworden“, erzählt er stolz und wirbelt mit seinem Fuß die vertrocknete Erde auf. „Schon meine Großeltern schliefen hier in einem hohlen Baumstamm. Mein Bett war eine Matraze aus Stoffresten und Bienenwachs.“ Heute ist es ein wackeliges Holzgestell mit einer Wolldecke – ohne Matratze. Statt durchlässiger Palmwedel bedecken gebrannte Ziegel das Dach der Lehmhütte. Doch auf materielle Errungenschaften legt „Seu Francisco“ keinen Wert. Wichtig ist ihm, daß er „niemals, nein, niemals“ für einen weißen Großgrundbesitzer arbeiten muß.

„Wir waren alle blauäugig“, beschreibt er seine Vorfahren, während er fröhlich pfeifend die frischgeschlachtete Sau ausnimmt, die im Türrahmen seiner Hütte baumelt. Hinter ihm reiben seine Söhne die glibbrige Speckschwarte mit Salz ein. „Es gab keine Kleidung und kein Essen, sie mußten Vögel jagen und sich von wildem Honig ernähren, und jeden Samstag zum Auspeitschen bei ihrem Herrn erscheinen.“

Grausam umgesprungen wurde insbesondere mit den Sklaven, die nach ihrer Flucht aus Hunger verzweifelt zur „Fazenda“ ihres Herrn zurückkehrten: „Die zurückgebliebenen Sklaven peitschten den Ausreißer mit der Lederpeitsche blutig“, erzählt der Quilombo- Nachfahre Antonio Santana. „Wenn er bereits in den letzten Zügen lag, ließ der Senhor den Bauch aufschlitzen und streute Pfeffer und Salz auf das Fleisch.“

Über hundert Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien im Jahre 1889 werden die anhaltenden Konflikte zwischen Großgrundbesitzern und den Nachfahren entlaufener Sklaven mit Hilfe von professionellen Killern, sogenannten Pistoleiros, statt mit der Peitsche gelöst. Am „Fluß der Frösche“ (Rio das Ras) zum Beispiel, einem Quilombo im Landesinneren des brasilianischen Bundesstaates Bahia.

Das ehemals sichere Versteck der aufrührerischen afrikanischen Zwangsarbeiter an der Uferböschung zwischen „Rio São Fransisco“ und „Rio das Ras“ liegt heute an der asphaltierten Bundesstraße „BR 349“. Doch seit der Baumwollproduzent Carlos Bomfim im Jahre 1984 die fruchtbaren Ländereien übernahm, ist das gemütliche Dasein der „Quilombaner“ gründlich gestört. Der Großgrundbesitzer machte mit seinem Traktor die Lehmhütten der Ex- Sklaven dem Boden gleich, steckte die Felder in Brand und schüchterte die dreihundert Familien am „Rio das Ras“ systematisch mit seinen schwerbewaffneten Pistoleiros ein. „Erst im November 1993, als ein brasilianisches Bundesgericht die Familien dazu bevollmächtigte, ihr traditionelles Gebiet wenigstens landwirtschaftlich zu nutzen, beruhigte sich die Lage“, erinnert sich Schwester Miriam Ines Beuch von der Landpastorale im benachbarten Wallfahrtsort Bom Jesus da Lapa. Sie hofft nun auf einen weiteren Sieg mit Hilfe der brasilianischen Justiz: die Anerkennung von „Rio das Ras“ als erster rechtmäßiger Quilombo Brasiliens. Denn wie den Indianern garantiert die brasilianische Verfassung auch den Quilombo-Nachfahren die Nutzung ihrer traditionellen Ländereien. Die Anerkennung von „Rio das Ras“ als erster rechtmäßiger Quilombo würde in der Praxis eine gewaltige Agrarreform auslösen. Nach Angaben der Stiftung „Fundacao Palmares“, die dem brasilianischen Kulturministerium untersteht, existieren in Brasilien 360 Quilombos, in denen rund eine halbe Million Nachfahren geflohener Sklaven leben.

Joao Rodrigues Couto lebt in einem Quilombo im Bundesstaat Sergipe. Er räumt ein, daß er über die Vergangenheit seiner Vorfahren kaum etwas weiß. „Nur der alte Josias, 102 Jahre alt, erzählte gelegentlich, wie die Neger flüchteten und wie nach der Zuckerkrise scharenweise neue Sklaven in den Quilombo kamen.“ Paulinia Souza Rodrigues aus dem Quilombo „Rio das Ras“ erfuhr von der über dreihundertjährigen Existenz der Sklaverei in Brasilien erst in der Schule. „Die Alten haben nur selten von früher erzählt, das war nicht üblich“, meint sie.

Von dem in der brasilianischen Verfassung verbrieften Besitzanspruch der Quilombo-Nachfahren auf ihr ehemaliges Versteck wurde sie erst von Schwester Miriam unterrichtet. Heute gehört die 33jährige, eine der wenigen Quilombo- Bewohner, die über acht Jahre Schulbildung verfügen, der fünfköpfigen Verwaltungskommission von „Rio das Ras“ an.

Bevor sich der Konflikt mit dem Baumwollproduzenten Carlos Bomfim 1984 zuspitzte, erinnert sich Schwester Miriam, „ging es den Familien gut.“ Sie verkauften ihre Ernte auf dem Markt in Bom Jesus da Lapa und betrieben Schafzucht. Heute würden die Ex- Sklaven zuweilen in ihrer Not das Rathaus besetzen und um Werkzeug und Samen betteln. „Über die Sache mit dem Quilombo waren wir uns vor dem Streit mit Bonfim nicht klar“, ergänzt Kommissionsmitglied Joao Francisco de Calda. Doch jetzt würde sich keiner mehr von der Stelle rühren. „Wenn wir hier kein Land bekommen, haben wir woanders erst recht keine Chance“, so das Motto der überzeugten „Quilombaner“.

Eine katholische Taufurkunde ist oft das einzige Dokument, das die Existenz der Quilombobewohner beweist. Der hundertjährige Francisco Archanjo de Souza, genannt Chico Tomé aus „Rio das Ras“ bewahrt nicht nur sein eigenes, sondern auch das Taufregister seines Vaters und seines Großvaters sorgfältig auf, die auf derselben Fazenda geboren wurden. „Dies hier hieß früher Fazenda Mucambo. Mucambo, weil sich dort so viele Neger und Indianer versteckt hatten, es war ein bißchen weiter oben.“ Stolz zeigt der Quilombo-Älteste einen Tisch, Schrank und eine kleine Sitzbank, die er noch von der „Fazenda Mucambo“ in seine Hütte mitbrachte.

Laut Chico Tomé gehörte das 13.000 Hektar umfassende fruchtbare Uferland zwischen den beiden Flüssen „Rio das Ras“ und „Rio São Francisco“ bis 1984 dem Großgrundbesitzer Deocleciano Teixeira. „Er hat mich adoptiert“, erzählt er. „Als er hierherkam, waren die Sklaven und Indianer schon da. Um Probleme zu vermeiden, überließ er uns einen Teil der Fazenda zum Anpflanzen.“ Später hätte er das Land an Carlos Bomfim verkauft.

Der Baumwollproduzent bestreitet dies: „Es gibt nicht die geringsten Anzeichen dafür, daß mein Land jemals ein Quilombo war“, weist er die Ansprüche der geflüchteten Sklaven zurück. Wenn dies zuträfe, dann sei ganz Bahia ein einziger Quilombo, „denn 80 Prozent der Bevölkerung des Bundesstaates ist schwarz“.

Der Nachweis, daß es sich bei einer Siedlung schwarzer Landarbeiter um einen „Quilombo“ handelt, ist in der Tat schwierig zu erbringen. Denn ein Jahr nach der Abschaffung der Sklaverei ließ die damalige brasilianische Militärregierung sämtliche Sklavenregister zerstören, um eventuellen Entschädigungsanforderungen von Sklavenhändlern zu entgehen. Die Sklaven selbst, des Schreibens und Lesens nur in Ausnahmefällen kundig, hinterließen keine schriftliche Quellen. Bei der Beweisführung sind Historiker deshalb in erster Linie auf die spärlichen Eintragungen im Taufregister der katholischen Kirche, auf Auszüge aus Grundbüchern sowie mündliche Überlieferungen heutiger Quilombo-Nachfahren angewiesen.

So zum Beispiel am „Rio dos Ras“: Erst 1990 setzte sich die Erkenntnis durch, daß es sich bei der Siedlung am „Fluß der Frösche“ um einen echten Quilombo handelt. Der Anthropologe Jos Jorge de Carvalho bescheinigte der Gemeinschaft der Ex-Sklaven ihre Authenzität: „Es handelt sich um eine soziale Gruppe mit einer eigenen Identität, die ausschließlich aus Schwarzen besteht, ohne Anzeichen von Vermischung, und die sich radikal von den Siedlungen in der Nachbarschaft unterscheidet“, lautet das Urteil des Akademikers. Die dreihundert Familien am „Rio das Ras“ seien die Nachfahren von Schwarzen, die sich dort vor der Abschaffung der Sklaverei niedergelassen und frei gelebt hätten – ein echtes Quilombo also.

Beginnt die brasilianische Regierung nun passend im 300. Todesjahr des berühmten Rebellenführers Zumbi dos Palamares mit der symbolischen Wiedergutmachung an den Nachfahren schwarzer Zwangsarbeiter? Zumbi, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts zusammen mit 40 Sklaven von einer Zuckerrohrplantage im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco ins Landesinnere flüchtete und dort den ersten Quilombo Brasiliens, „Palmares“, gründete, gilt innerhalb des Landes als Symbolfigur schwarzen Widerstands. Seine Siedlung wuchs in kürzester Zeit auf 20.000 Einwohner heran. 1694 ließen die Statthalter der portugiesischen Krone die zehn Dörfer der rebellischen Ex-Sklaven zerstören. Ein Jahr später wurde Zumbi dos Palmares ermordet.

Schwarze Bürgerrechtsorganisationen fordern zum 300. Todestag ihres Nationalhelden von der brasilianischen Regierung wenigstens einen symbolischen Akt. „Die Vergabe von Grundstücksurkunden an die Quilombo-Nachfahren“, so Jairo Fonseca von der Vereinigung brasilianischer Rechtsanwälte (OAB) aus Rio de Janeiro, „ist der erste Schritt zur Vergangenheitsbewältigung von 350 Jahren Sklaverei in Brasilien.“

„Die Verbrechen gegen Sklaven sind nach brasilianischem Recht zwanzig Jahre nach der Abolition verjährt“, erklärt der Rechtsanwalt. Bis heute könnten die Millionen von Afrobrasilianern aufgrund der anhaltenden Diskriminierung ihre Bürgerrechte auch heute noch nicht vollständig in Anspruch nehmen. Erst wenn Ex-Sklaven zu Großgrundbesitzern aufsteigen könnten, dann wäre Brasilien wirklich die „Rassendemokratie“, als die es sich schon heute ausgibt.