Punkte machen mit den Schwachen

■ SPD-Chef legte sich für die sozial Benachteiligten ins Zeug / Rat an die Regierungskoalition: "Verbringen Sie mal eine Woche mit einer Familie, die von Sozialhilfe lebt!" / Schwenker zu den Grünen

Bonn (taz) – Am Dienstag in der Fraktionssitzung leistete sich Rudolf Scharping noch einen dicken Schnitzer: Da mußte er seine Fraktion, die die designierte Wehrbeauftragte Claire Marienfeld (CDU) bereits klar abgelehnt hatte, bitten, noch einmal abzustimmen: Er habe der CDU nämlich die Stimmen der SPD für Marienfeld versprochen. Die Genossinnen und Genossen taten's – zähneknirschend. Und Beobachter der Bonner Szene gaben schon keinen Pfifferling mehr dafür, daß Scharping 1998 noch einmal SPD- Kanzlerkandidat sein würde.

Gestern nun legte sich Scharping mächtig ins Zeug. Der bedächtige Westerwälder hielt am dritten Tag der Haushaltsberatungen eine temperamentvolle Rede, die sogar die Unionsfraktion zeitweise mucksmäuschenstill werden ließ. Ein Fortissimo schon zum Auftakt: Wenn ein Haushaltsentwurf die zugrundeliegende Politik verrate, dann zeige dieser Entwurf eine Politik des Stillstands: „Sie haben 1982 eine geistig-moralische Wende versprochen!“ rief Scharping dem Kanzler zu, „eine Wende hat es gegeben, aber sie ist keine geistige. Und moralisch vertretbar ist sie auch nicht. Ihre Politik hinterläßt eine gespaltene Gesellschaft.“

Dem Finanzminister Theo Waigel (CSU) warf Scharping vor, er habe mit seinem Entwurf zum Jahressteuergesetz 1996 „einen erstaunlichen Pfusch“ abgeliefert. Die Koalitionspartner Union und FDP nannte er „zwei Boxer in der dreizehnten Runde. Sie stehen nur noch, weil sie sich aneinanderklammern.“ Und als Helmut Kohl sich da mit einem Zwischenruf stolz als „Superschwergewicht“ outete, bekam er von Scharping einen spontanen Haken zurück: „Damit wäre ich vorsichtig, Herr Bundeskanzler. Das ist auch eine Frage der Geschwindigkeit und Beweglichkeit.“

Ein paar Sätze lang hätte man im Plenum gar eine Stecknadel fallen hören können. Der SPD-Fraktionschef hatte eben von der steigenden Zahl alleinerziehender Mütter gesprochen, die die Regierungspolitik zu Empfängerinnen einer unzureichenden Sozialhilfe mache. Da lachte ein männliches Mitglied der Koalitionsfraktion. Scharping konterte mit Donnerstimme, und alles wurde leise: „Wer da lacht, dem empfehle ich, einmal eine Woche lang mit einer Familie zu verbringen, die von Sozialhilfe leben muß. Das ist kein Grund zum Lachen, das ist zum Weinen. Hören Sie auf, diejenigen, die Sie ins soziale Abseits gedrängt haben, auch noch dafür verantwortlich zu machen!“

Sogar ein paar Schwenker in Richtung der Grünen enthielt die Rede Scharpings – Hinweis auf eine Hinwendung zu einer Bündnisstrategie zwischen SPD und Grünen, die Scharping im Wahlkampf und danach stets peinlich vermieden hatte? Er erklärte, daß Atomenergie nicht zu verantworten sei, und ließ einen Hinweis folgen, wie harmonisch die Wirtschaft mit roten – und grünen – Umweltministern lebe: „Hessische und rheinland-pfälzische Chemie-Unternehmen loben rote und grüne Umweltminister, weil sie die Genehmigungsverfahren verkürzt haben.“

Am Schluß von Scharpings Rede applaudierte sogar der „heimliche Oppositionsführer“, der grüne Fraktionssprecher Joschka Fischer, mehr als höflich. Andrea Dernbach