Schüsse auf Japans obersten Polizisten

■ Polizeichef, der den Tokioter Giftgasanschlag untersucht, überlebt Attentat / Kämpfer gegen organisiertes Verbrechen / Täter kann unbehelligt entfliehen

Tokio (taz) – Hätte Takaji Kunimatsu wie jeder andere Polizeichef eines kleinen oder größeren Landes in einer mit Videokameras gesicherten Villa hinter Stacheldrahtzäunen gelebt, wäre ihm vermutlich auch gestern nichts passiert. Tatsächlich aber wohnte der japanische Polizeichef Kunimatsu wie jeder normale Tokioter Angestellte in einer ungeschützten Apartment-Wohnung.

Kaum hatte Kunimatsu gestern morgen das Haus verlassen, wurde viermal auf ihn geschossen. Und so geschah es, daß Japans wichtigster Mann im Kampf gegen Terrorismus, Mafia und Drogen getroffen zusammenbrach, während sich der Täter unverfolgt durch die Gärten der Hochhaussiedlung davonstehlen, auf sein Fahrrad setzen und unerkannt im Stadtgewirr verschwinden konnte.

Takaji Kunimatsu hatte Glück: Er überlebte den Anschlag. Nach sechsstündiger Operation konnte sein Arzt bereits am Nachmittag mitteilen, daß sich der Patient nicht mehr in Lebensgefahr befand.

Wie war es möglich, daß der Täter völlig unbehelligt auf Kunimatsu schießen konnte – den Mann, der die Untersuchungen der Tokioter Giftgasanschläge vom 20. März leitet? Dazu schwiegen gestern die Verantwortlichen. Nur Premierminister Tomiichi Murayama stellte sich notgedrungen vor die Kameras und sprach von einer „unverzeihlichen Tat“.

Die Polizei aber ließ nach dem Mordversuch an ihrem Chef alle Bäume und Büsche im Umkreis des Tatorts von Beamten nach Fingerabdrücken absuchen. Wer immer die japanische Polizei demütigen wollte, hatte es an diesem Tag geschafft. Dabei hatte der Chef noch bei seiner Amtseinführung im Juli 1994 vorgewarnt: „Immer häufiger erleben wir Pistolenangriffe auf Topmanager von Unternehmen. Das hat wahrscheinlich mit der Mafia zu tun, und es ist die dringende Aufgabe der Polizei, sich vermehrt mit diesen Anschlägen zu beschäftigen.“

Doch so recht wollte Kunimatsu schon damals keiner glauben: 38 Menschen wurden 1994 in Japan mit einer Schußwaffe ermordet, und in diesem Jahr waren es bisher 5 Personen. Für ein Volk mit 124 Millionen Einwohnern waren das zu wenige Fälle, um irgend jemandem ernsthafte Sorgen zu bereiten.

Japan verfügt bis heute über eines der strengsten Schußwaffengesetze der Welt, und dem Parlament soll in Kürze ein Entwurf vorgelegt werden, der jeglichen Waffengebrauch in der Öffentlichkeit – sei es auch im Kampf gegen die Tokioter Rabenplage – unter hohe Strafe stellt.

Dieses Vorhaben, ebenso wie das bereits 1993 verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, trägt die Unterschrift Kunimatsus. Vor allem die alteingebürgerten Stillhalteabkommen zwischen Polizei und Mafia – etwa im Drogen- oder Prostitutionsbereich – werden von dem erst neun Monate im Amt befindlichen Polizeichef stärker als bisher hinterfragt. Handelte es sich also um eine gezielte Attacke seiner Gegner?

Plötzlich fiel den Ermittlern wieder ein, daß auch die jüngsten Giftgasanschläge in der Tokioter U-Bahn, bei denen zehn Menschen getötet und fünftausend verletzt wurden, möglicherweise als Attentat auf die Polizei gemeint waren. Alle vergifteten U-Bahnen befanden sich auf dem Weg zur Station Kasumigaseki vor dem nationalen Polizeipräsidium. Die bisher im Zusammenhang mit den Giftgasanschlägen verdächtigte Sekte AUM Shinrikyo (Erhabene Wahrheit) dementierte gestern als erste jede Verantwortung für das Attentat auf den Polizeichef. Georg Blume