: "Rohheit und Barbarismus"
■ Über den Berliner an und für sich: Schlechte Laune, ein Grobian, ein Nörgler / Ethnologische Wahrheiten und historische Urteile gegen den Mythos der witzigen Schnauze
Zwei Omas stehen mit ihren Dackeln im Stadtpark Schöneberg und tratschen. Kommen zwei kleine Bengels, knoten die Dackel mit ihren Schwänzen aneinander und laufen davon. Kreischt eine Oma: „Verdammte Lausebengels! Wenn man das mit euch machen würde!“ Die beiden Steppkes kichern und rufen: „Ooch nee, so kleene Knoten könnt ihr ja gar nich machen.“
Das Traurige an dieser Geschichte ist: Solche Berliner Witze scheinen auszusterben. „Der schlagfertige Witz ist einer recht humorlosen Grobheit gewichen, die mir früher unbekannt war“, beklagte sich der US-Soziologe Bert Huberts. Er beschrieb zwar das durch die Studentenbewegung polarisierte Westberlin im Jahre 1969. Aber er könnte auch das heutige Gesamtberlin meinen. Seit der reale Sozialismus das Zeitliche segnete und Erich im chilenischen Exil verröchelte, fehlt der berühmten Berliner Spottlust ihr wichtigstes Zielobjekt. Und weil im Osten oder Westen der Hauptstadt nicht mehr Überlebenstraining, sondern bundesrepublikanischer Alltag absolviert wird, zerfällt der nunmehr als Lebenshilfe überflüssig gewordene Sarkasmus der Berliner in seine Bestandteile. Als da wären: Schlagfertigkeit und nüchterner Realitätssinn, aber auch Grobheit, Miesepetrigkeit, Überheblichkeit, querulatorisches Nörglertum.
Zugegeben: Der Berliner an und für sich ist erstens ein Pfannkuchen und zweitens ein Klischee. Wenn wir uns nun anschicken, den Berliner aufzuschlitzen, um seinen Charakter zu sezieren, kommt erstens Marmelade oder Senf heraus und zweitens keine unveränderlichen Wahrheiten, sondern ethnologische Annäherungen. Dennoch wagen wir den Versuch und stellen die These auf, daß das Grobgestrickte die Berliner schon seit Jahrhunderten ausgezeichnet hat: „Die Menschen hier sind im ganzen gutmütig, aber roh“, beobachtete der gottesfürchtige Abt Tritheim bereits im Jahre 1505. Der jeder geistigen Betätigung abholde Charakter der Berliner scheint schon damals recht ausgeprägt gewesen zu sein. Sie „lieben Trinkgelage und Schmausereien viel mehr als die Wissenschaften“, notierte der Abt über die Ureinwohner der Doppelstadt Berlin-Cölln.
Ähnliches befand drei Jahrhunderte später der „Ur-Meyer“, jener zwischen 1839 und 1856 zusammengestellte Vorfahre unseres Meyerschen Konversationslexikons: „Liebenswürdig ist der Berliner nicht, es fehlt ihm das Weiche, Gefühlvolle, Poetische der Süddeutschen. Trotz vieler äußern Politur ... bleibt der ächte Berliner ein roher, starker Charakter. Sein Witz ermangelt des realen Gehalts, er ist meist Wortwitz, sein Scharfsinn äußert sich als Sarkasmus, seine Tendenzen entspringen dem puren Egoismus. Berlin ist Trägerin des preußischen Nationalismus, aber nirgends tritt das Preußenthum forcirter auf als hier. Eingenommen von seiner Stadt, stolz auf ihre Institutionen, ist der Berliner absprechend, anmaßend, verletzend, kleinstädtisch. Daher die geringe Sympathie, welche Berlin im gemüthreichen Süden von Deutschland findet.“ Prophetische Sätze. Als ob die Verfasser den heutigen Streit um den Regierungssitz vorausgesehen hätten.
Nicht minder klarsichtig ist das Kapitel über den Berliner „Volkscharakter“ in der Meyerschen Ausgabe von 1874: „Der Berliner hat aber auch die Neigung, an allem Größern und Tiefern, das ihm entgegentritt, zu mäkeln oder es auf das Gebiet des Scheins und der Moden herunterzuziehen. Reisende Berliner gewöhnlichen Schlags können aus Prinzip außer ,Behrlin‘ nichts Schönes finden, pflegen gern überall etwas hoch und anmaßend aufzutreten.“
Daß „Meyer“ mit dieser Ansicht damals nicht allein dastand, beweist die lange Klage eines unbekannten Journalisten aus dem Jahr 1864: „Der Berliner ist gegen Unbekannte meistens flegelhaft grob und roh. Dazu kommt eine hartnäckige Behauptung seines Rechts. Daher weicht er zum Beispiel auf dem Trottoir nur unter Zurücklassung einiger roher Ausdrücke, oft nur mit Gewalt aus. Er ist sich vor Allem der Nächste. Im Omnibus, im Theater, bei öffentlichen Aufzügen finden wir diese Erscheinung immer wieder. Das sogenannte ,Schupsen‘ und ,das Stoßen in den Rinnstein‘ sind Lieblingskunststücke der Berliner. Alles dies hängt zusammen mit der Rohheit und dem norddeutschen Barbarismus im Volke.“
Auch der französische Schriftsteller Honoré de Balzac fühlte sich sichtlich unwohl in Berlin. 1847 schrieb er in sein Tagebuch: „Berlin sieht aus wie ein Wörterbuch. Und wie große Fortschritte es auch machen möge, Wien wird immer amüsant und Berlin immer langweilig bleiben. Ich glaube, das macht der Protestantismus. Berlin ist, was die Langeweile betrifft, mit Genf verwandt. Stellen Sie sich ein Genf vor, das in einer Sandwüste verloren ist, und Sie haben eine Idee von Berlin. Es wird vielleicht eines Tages die Hauptstadt von Deutschland, aber immer wird es die Stadt der Langeweile sein.“ Ute Scheub
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