Im evolutionären Rückwärtsgang

Die sensationelle Wiederentdeckung der anthropolytischen Methode des Schweizer Arztes Jakob Pilzbarth, des zu Unrecht vergessenen Spiritus rector von Sigmund Freuds Psychoanalyse und Carl Gustav Jungs Archetypenlehre  ■ Von Walter Saller

Eine glänzende Erscheinung ist Jakob Pilzbarth nie gewesen. Dafür war er seiner Zeit allzuweit voraus, und vorübergehend zählten sogar Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zu seinen überzeugten Schülern. Mehr noch: Ohne Pilzbarth wären weder Freuds Psychoanalyse noch Jungs Archetypenlehre denkbar. In seinem vorurteilslosen Bestreben, dem Menschen zu seinem wahren Selbst zu verhelfen, erzielte der unerschrockene Forscher spektakuläre Ergebnisse. Doch diese gerieten ihm zum Verhängnis: Pilzbarth wurde verkannt, geächtet, schließlich inhaftiert. Und vielleicht ist in der bisherigen Wissenschaftsgeschichte noch nie ein wegweisendes Experiment mit solch gnadenloser Ignoranz durch Gesellschaft und Behörden zerstört worden.

64 Jahre nach Pilzbarths Ableben, brachte nun Jürg Willi, Leiter der psychiatrischen Poliklinik Zürich, das bereits im Jahre 1900 erschienene Hauptwerk des völlig Vergessenen wieder ans Licht: „Die Überwindung des Menschseins durch Anthropolyse nach der Heilmethode von Prof. Pilzbarth“. Seit Darwin ist es schmerzliche Gewißheit: Der Mensch unterscheidet sich nicht grundlegend vom Tier, durchläuft in seiner embryonalen Entwicklung die Stammesgeschichte im Zeitraffertempo, beginnt mit Fischkiemen, endet mit Säugetierlungen. Ein ähnlicher „phylogenetischer Umwandlungsprozeß“, glaubt Pilzbarth, finde sich auch im psychischen Bereich. Wenn aber, so sein zwingender Schluß, Menschen nicht nur Vorgängiges und Verdrängtes, Triebe und Traumata ausleben und wiederholen, sondern die ganze archaische Stammesgeschichte, dann ist das althergebrachte Verständnis des menschlichen Ich nichts als eine Selbsttäuschungen, lauert das wahre, animalische Selbst des Homo sapiens tief unter den menschlichen und sozialen Rollen.

Der Sprung zum echten, „posthominiden Menschen“ aber ist nach Pilzbarth nur durch ein „bewußtes Zurückschreiten in alle Stadien der Stammesgeschichte“ möglich, eine Form der Ultraregression gewissermaßen. Um die animalischen Stufen jedoch zu überwinden, muß sich der Mensch erst der Anthropolyse – der Auflösung des Menschseins – unterziehen, sich seinem tierischen Erbe öffnen: der Gefräßigkeit des Wolfes, der Dummheit des Esels, der Geilheit des Bockes, der Unflätigkeit des Schweins.

Auch eine Rückentwicklung zu phylogenetisch einfacheren Formen ist möglich. Pilzbarth dokumentiert Berichte über Menschen mit Eselsohren, Hasenscharten, Wolfsrachen, schuppenartigen Hautveränderungen, analysiert berühmte Fälle wie „Lionel, den Löwenmenschen“ oder jenen sensationellen „Elephant Man“, dem das renommierte British Medical Journal 1886 eine Sondernummer widmete.

Schon als junger Medizinstudent in Wien zeigt sich Pilzbarth von der Zurschaustellung menschlicher Abnormitäten fasziniert, in Veltées Stadtpanoptikum wie in den Schaubuden des Praters. Sie sind der schlagende Beweis: Der Mensch kann in frühere Stadien regredieren. Und da es sich bei den Mißgebildeten meist um Schockgeburten handelt, zieht Pilzbarth den einzig möglichen Schluß: Starke psychische Kräfte können morphologische Veränderungen auslösen, den evolutionären Rückwärtsgang einlegen.

Wie aber lassen sich diese Kräfte bündeln, Wandlungen gezielt herbeiführen? Um diese Frage methodologisch und praktisch zu klären, schart Pilzbarth zwölf ergebene Jünger um sich, darunter Sigmund Freud. Zahllose Experimente mit verschiedenen chemischen, physikalischen und hypnotischen Methoden werden durchgeführt, und bald stellen sich greifbare Erfolge ein. Einem Mitarbeiter gelingt es, unter regelmäßigen Alkoholinhalationen seine Nase um vier Zentimeter wachsen zu lassen, und kann „mit einem rüsselähnlichen Fortsatz eine ausgewachsene Rübe vom Tisch aufgreifen“. Bei einem anderen setzt durch regelmäßige Tiefenhypnose ein Wachstum der Ohren um sieben Zentimeter ein, und er vermag „seine Löffelohren zum Takt eines Metronoms“ zu bewegen. Und ein dritter bringt es durch tägliche Einnahme von sieben getrockneten Widderhoden gar „zu würzigem Bocksgeruch, langer, zottiger Körperbehaarung und zu Ansätzen von Hornbildung über beiden Schläfen“.

Die Ergebnisse sind ermutigend, das erste Großexperiment wird vorbereitet: die Rückführung eines Menschen ins Stadium des Affen. Ausgewählt wird Freud. Er weigert sich und wird aus Pilzbarths Kreis ausgestoßen. Die Verstoßung aber wird Freud Pilzbarth nie verzeihen. Immer wieder muß Pilzbarth feststellen, daß auch die couragiertesten Jünger vor eklatanten Körperveränderungen zurückschrecken. Er sieht nur eine Lösung: „Die Reinigung des Geistes durch Entmannung“. Mehrere unterwerfen sich der Kastration im Dienste der Forschung. Bedauerlicherweise schlägt die Geliebte eines Anhängers Krach, man tuschelt von „ritualisierter Phallusverehrung“ und „Samenkommunion“. Es kommt zum Skandal, bei Nacht und Nebel muß Pilzbarth in die Schweiz fliehen. Dort übernimmt er die Zürcher Bäderklinik Girenbad und beginnt mit der anthropolytischen Therapie.

Das Aufnahmeverfahren ist streng, drei Proben sind zu bestehen. Zuerst wird der Klient drei Tage auf eine Weide gesperrt, muß auf allen Vieren laufen, sich von Kräutern nähren. Die zweite Prüfung besitzt meditativen Charakter. Der Proband wird nackt in einen Sarg gelegt, mit Erde und Würmern bedeckt. Beinahe unlösbar ist die dritte Aufgabe. Mit einer Gruppe von Tieren in einen Käfig eingeschlossen, muß sich der Anthropolysant so aufreizend verhalten, daß „zumindest eines der Tiere sexuell“ anspricht.

Nach bestandenen Prüfungen folgt die Couch. Zunächst muß der Klient über einen persönlichen Leitspruch meditieren. Verbürgt ist die Kontemplationssentenz eines Professors: „Der Geist weht im Winde, aber der Kot bildet die Erde, die uns nährt.“ Dann folgt die Diagnose: Wo bestehen beim Kandidaten Lücken in seiner stammesgeschichtlichen Verwirklichung? Wo ist er neurotisch geworden, aufgrund einer nicht ausgelebten Phase? Pilzbarth benutzt das Psychogalvanometer. Es beruht auf der Erkenntnis, daß Reaktionen wie Ekel und Angst die elektrische Leitfähigkeit der Haut verändern. Zeigt der Proband heftige Reaktionen bei Nennung eines Tieres, gilt dies als erstes Indiz für ein mangelhaft verarbeitetes Stadium. Zur Heilung müssen die Defizite mittels Anthropolyse nachgelebt werden.

Auch C. G. Jung, damals Assistenzarzt an der kantonalen Irrenanstalt Burghölzli, unterzieht sich der neuen Methode. Auf eine Wiese gesperrt, kriecht auf allen Vieren, frißt frische Gräser. Um die Identifikation mit einem Stier aber zu verstärken, werden ihm zwei Hörner aufgebunden. Jung versenkt sich ganz in die Psyche eines Stiers. Bis ihn zufällige Besucher identifizieren. Besorgt um seinen Ruf bricht er die Übung ab, flieht, sagt sich von Pilzbarth los. Er wendet sich an Freud, der ihn in seinem Abfall bestätigt – ohne seine eigenen anthropolytischen Erfahrungen preiszugeben. Dankbar schließt Jung sich Freud an, obwohl er zeitlebens, vor allem in seiner Archetypenlehre, Pilzbarth geistig näher bleiben wird.

Pilzbarths durchschlagende Erfolge führen zum Eklat. Immer mehr Kandidaten fühlen sich in ihrer Regression sauwohl, weigern sich, ins menschliche Stadium zurückzukehren. Schließlich schreiten die Behörden ein, durchsuchen die Klinik und treffen „17 tierartige Wesen“ an. Unter anderem „Dr. Albert Weber im Stadium eines Nilpferds, angetroffen in einer Badewanne, sich jeder Weisung durch bedächtiges Schütteln des Kopfes“ widersetzend. Ferner „Yvette Großmann, angetroffen im Stadium einer Fledermaus, kopfunter an der Decke hängend, nicht ansprechbar“. Oder Markus Wettstein, „angetroffen im Stadium eines Marabus, mit Scheitelglatze und langem Schnabel, augenscheinlich die Untersuchungsbeamten auslachend“.

Die Klinik wird geschlossen, die Insassen werden in Irrenanstalten, Pilzbarth ins Gefängnis überführt. Eine gerade gedruckte Sondermarke mit dem Konterfei des Forschers landet im Reißwolf. Nach drei Jahren Haft stirbt Pilzbarth. Enttäuscht, verbittert, zerbrochen. Sein Tod wird in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen: Beerdigung im engsten Familienkreis, keine Nachrufe in Zeitungen. Schon bald ist Pilzbarth völlig vergessen.

Erst viele Jahre nach Pilzbarth und kurz vor seinem eigenen Tod setzt Freud sich noch einmal mit seinem geistigen Vater auseinander. In der letzten Arbeit seines Lebens, „Der Mann Moses“, schreibt er, das psychische Leben des Individuums weise nicht nur selbsterlebte Inhalte auf, sondern auch eine phylogenetische, archaische Erbschaft. Ohne Begründung freilich verwirft er deren Bedeutung am Ende der Arbeit. Nur wer um Freuds Begegnung mit Pilzbarth weiß, versteht, warum ihn die Auseinandersetzung mit dem stammesgeschichtlichen Erbe noch einmal eingeholt hat.

Doch nicht nur Freuds Biographie wird in manchen Abschnitten neu zu schreiben sein. Die gesamte Psychoanalyse wird Pilzbarth nicht länger übergehen können. Die Entdeckung des großen Forschers und seines genialen Werkes aber danken wir allein dem schöpferischen Geist von Jürg Willi und seiner Frau Margaretha Dubach.

Jürg Willi & Margaretha Dubach: „Die Überwindung des Menschseins nach der Heilmethode von Prof. Pilzbarth“. Haffmans Verlag, Zürich 1994, 22 Mark.