Offener Brief von Sophie an Jo Gaarder

■ Von der Qual, als Geburtstagsgeschenk fünf von Sofies Welten zu ertragen

Lieber Jo, ich habe gehört, du hast noch ein Philosophiebuch geschrieben, diesmal für Jungen. Darüber bin ich sehr froh, denn Jungen interessieren sich natürlich nicht für Philosophie, wenn Mädchen die Hauptpersonen sind. Bei Jungen muß es schon was mit Zahlen sein, das hast du gut erkannt. Ich hoffe, denen raucht dann auch der Kopf wie mir.

Statt „Sofies Welt“ mußte mein Bruder „Geschichten vom Ufer des Tibers“ lesen. Das ist Philosophie von unten, sagte Mama. Jedenfalls ist es ist viel dünner und lustiger. Er mußte dauernd kichern oder griff sich an den Kopf und stöhnte „Hirni, ein echter Hirni. Ich bin, was ich bin, tolle Idee. Ey, der mißt die Dunkelgeschwindigkeit, ein echt irrer Penner.“ Ich schaute ihn neidisch an. Bei Sofie wußte man nicht, ob sie ist oder nicht ist. Aber wann Sokrates geboren wurde, das war immerhin klar, aber öde. Irgendwann merkte Mama, daß das Buch verschwunden war. Ich hatte es verliehen. Marie wollte es unbedingt, weil in der Klasse darüber geredet wurde. Mama schaute beleidigt. „Daß du gar keinen Ehrgeiz hast. Alle lesen es. Die Tochter von Pfarrer Neumann, über uns die kleine Suse, die Tochter von Dr. Müller, alle. Nur du hast kein Durchhaltevermögen, dabei heißt du Sophie.“

Abends war Mama wieder gut drauf. „Ich hab's mir überlegt, wir werden das Buch gemeinsam lesen. Und damit wir sofort damit anfangen können, habe ich es zweimal gekauft, einmal für dich und einmal für mich.“ Und da lag es wieder da, eisig blau mit Flummi als Weltkugel, wie ein Werbeplakat vom Zirkus Ronkalli. Jeden Abend gab es jetzt ein Kapitel.Ich lauerte immer auf den Augenblick, wenn von Sofies Mutter die Rede war, die ist nämlich das Gegenteil ihrer wißbegierigen Tochter, ganz Ottilie Normalverbraucherin, mit Lust auf Fernsehen statt an Bildung. Mama nahm es seufzend hin, vergaß es sogleich, saugte alles auf, was dieser Knox dozierte, wie ein trockener Schwamm.

„Sophie“, rief sie beschwörend, „das ist doch wunderbar. Stell dir vor, wie schrecklich es ein muß, auf Schatten hereinzufallen und gar nicht zu wissen, wer den Schatten geworfen hat. Verstehst du, was ich meine? Man muß alles hinterfragen. Die Fragenden sind die Gefährlichen.“ Ich nickte. „Wieso ist das neu für dich?“ Doch sie hörte mich gar nicht. Statt dessen rief sie: „Weißt du, was uns vom Affen unterscheidet?“ Da gab es nur eine passende Antwort: „Sie lesen keine Bücher.“ „Eben“, meinte Mama, „und darum fehlt ihnen das Bewußtsein. Sie wissen nicht, woher sie kommen und wer sie sind. Sie sind einfach nur da. So leben auch viele Menschen. Sie wissen nicht wie die Welt entstanden ist, die ganze lange Geschichte.“ „606 Seiten“, stöhnte ich, „200 Seiten gehen für Sofies und Hildes Geschichte drauf, und immer, wenn von den Müttern die Rede ist, ist es frauenfeindlich. Also früher hättest du dich nicht von einem Mann über deine Geschichte aufklären lassen.“ Mama guckte genervt. „Also die Geschichte mit den beiden Mädchen und ihren Müttern interessiert mich nicht so, ist ja auch nur ein didaktischer Trick.“ „Denkste, alle die ich kenne, überblättern die Philosophie und lesen nur die Geschichte.“ Wir schauten uns unversöhnlich an. „Du bist dümmer, als ich dachte“, sprach meine Mutter, nahm das Buch und verschwand.

Lieber Jo, das hat mich verletzt. Ich beschloß, einen letzten Versuch zu wagen und ging an dein Buch ran wie an eine Zeitung, nämlich von hinten, weil auf der letzten Seite immer das Spannenste steht. Und wahrhaftig, da wird auch der Major zur bloßen Buchfigur, aber vorher kann er seiner Hilde noch etwas Wunderbares sagen. Ich schätze Mama wird weinen, wenn ich es ihr vorlese. Also der Major sitzt mit Hilde mitsommernächtlich in der Hollywoodschaukel, die Mama ist, weil störend, schon schlafen gegangen, da erzählt er vom Ursprung der Welt nach dem großen Knall. „Eine Galaxis kann von der anderen Jahrmilliarden entfernt sein. Aber alle haben denselben Ursprung. Alle Sterne sind Planeten aus einem Geschlecht. Was ist dieser Weltstoff? Was ist vor Milliarden von Jahren explodiert? Woher kam es? ... Es betrifft uns zutiefst. Denn wir sind aus diesem Stoff. Wir sind ein Funken des großen Feuers, das vor Jahrmillionen angezündet worden ist.“ Da sage ich mit Hilde „Das hast du schön gesagt“.

Lieber Jo, weiter so. Als nächstes wird ein Frauenbuch fällig. Das schenke ich dann Mama zum Geburtstag. Willst du wissen, wie oft ich zum fünfzehnten Geburtstag „Sofies Welt“ bekommen habe? Mach das nicht noch mal, Jo! Deine saure Sophie

Luigi Malerba: „Geschichten vom Ufer des Tibers“. Ravensburger RTB Bibliothek, 121 Seiten, 9,80 DM