Nachschlag

■ Gruftige Perfektion: Das Ich litt musizierend in Potsdam

Im Potsdamer Lindenpark, seit mehr als zwanzig Jahren Konzert- und Tanzsaal, „preisbrechende Konsumgaststätte“ mit angegliedertem Jugendclub und Waldschloß, veranstaltet man heute unter anderem Konzerte für „schwarzgelackte blasse Damen“, „junge Hippies“, „elektrisierte HipHopper“ und sogar Punks. Irgendwo zwischen Potsdam und Babelsberg, wo die Bürgersteige schon abends um sechs hochgeklappt werden, verschlug es mich am Samstag anläßlich eines Konzerts der Bayreuther Musiktheatergruppe Das Ich nebst Vorgruppen Merlons Of Nehemiah (Mischung aus Ofra Haza und Hildegard von Bingen mit mittelalterlicher Instrumentierung) und Ichor (Elektro aus Amerika) in den Park, der keiner ist.

Zunächst aber fand ich seltsamerweise einen alten gelben Bus mitten im Raum, den, so klärte mich die seit zwanzig Jahren den Lindenpark begleitende Bardame auf, sie bereits vor zehn Jahren vom Schrottplatz hierher mit habe schieben helfen müssen. Ein zweiter Blick in die Runde bestätigt meinen seit langem gehegten Verdacht, daß die Sorte Mensch mit dunklen Augenringen, aufgetürmt buntem Haar, Reifrock, Latexmieder und geschultertem Kruzifix immer seltener wird.

Das Publikum, die zu Bankangestellten gereiften Damen und Herren, betreibt heute weniger Aufwand beim Styling, wiegt sich in alter Manier sanft und gesenkten Blickes zu den Melodeien. Nach den Merlons und einem eher mühevollen Auftritt von Ichor tritt endlich Stefan Ackermann, Sänger der Ichs, Hauptattraktion des Konzerts und der Schönsten einer, ans Licht. Mit dem wackelnden Schädel eines Gnoms aus der Unendlichen Geschichte oder eines Einsiedels im Sandloch und rollenden, weit aufgerissenen Augen präsentiert er soundgewaltig mit seiner Band das aktuelle Album „Staub“. Das Feuilleton mag sich über die Reinszenierung deutscher Sprache durch das Ich (lange vor Blumfeld) mokieren – schon mit dem ersten Album „Die Propheten“ hatte die Band mehr verkauft als Aushängeschilder der deutschen Musikkultur wie die Neubauten oder Philip Boa und damit zur Etablierung einer weitläufigeren Szene beigetragen. So kam dann, was die schwer verdienten Gelder für theatralischen Existenzialismus à la Ackermann in die gefüllte Konzertkasse wandern ließ: Das Ich ackerte sich auch an diesem Abend mit gewohnt perfekter Bühnenpräsenz am Pazifismus, einer expressionistischen Stellungnahme („Hirne und Schädel, Gier und Tier, Bitterkeit und Winterzeit“) gegen die Kehrseite „unserer Oberflächenwelt“, gegen Krieg und Zerstörung, ab. Gott ist tot, und Ich ist immer noch Mensch. Susanne Messmer