Koexistenz ist möglich!

Obwohl Becker den Daviscup-Siegerpunkt holt, hassen sich Niederländer und Deutsche nicht  ■ Aus Utrecht Falk Madeja

Ein As, eine Faust, ein Jubel: Boris Becker schlug gestern nachmittag den Niederländer Richard Krajicek (6:3, 6:4, 3:6, 6:1), Deutschland führte vor dem letzten Einzel (Stich - Haarhuis, nach Redaktionsschluß) 3:1 und darf im September zum Daviscup-Halbfinale nach Moskau reisen und Revanche für die letztjährige Niederlage einfordern. Es war dies Höhepunkt eines Wochendes, das den Deutschen nicht allein den Sieg, sondern auch echte klimatische Erfolge eingebracht hat. Auch Teamchef Niki Pilic darf neuerdings, das hat man nach dem siegbringenden Punkt freudig erlebt, den Becker wieder kosen – und Michael Stich darf es sowieso.

Vor der Prins van Oranjehal fragte ein witziges Plakat über einer aus rotem Tennissandplatz gebauten Strandburg: „Gegen wen spielen wir heute eigentlich?“ Die deutschen Strandurlauber sind an Hollands Stränden berühmt-berüchtigt, weil sie verbissen Strandburgen bauen und die mit Händen und Füßen verteidigen. Die Außenminister Kinkel und van Mierlo saßen verkniffenen Gesichtes im Publikum, anscheinend bereit, jeden antideutschen Reflex persönlich im Keim zu ersticken.

In der Oranjehal wollte außer den Teenies kaum jemand auf dem antideutschen Schlagzeug mitspielen. Was sonst bei jedem deutsch- niederländischen Fußballspiel passiert, primitives antideutsches Genöle oder Faustschläge gegen deutsche Journalisten — es fand einfach nicht statt. Die Tennisfreunde etwa, die die Ersteklasseabteile der Züge zwischen Rotterdam sowie Amsterdam und Utrecht bevölkerten, hatten sich zwar in die Gesichter niederländische Fahnen geschminkt, die Fans in der Prins van Oranjehal meist orange T-Shirts und gleichfarbige Kappen übergezogen. Aber was angesichts aller Erfahrungen erstaunlich ist: die Atmosphäre war entspannt, fröhlich, nett.

Das Paar Dagmar und Heny witzelte, lachte, klatschte und jubelte. Der ganz orange gekleidete Heny, Versicherungskaufmann aus dem holländischen Nieuwpoort, hatte in den ersten zwei Sätzen des samstäglichen Doppels mehr Grund zur Freude. Die aus Bremen stammende Dagmar, unauffällig in Jeans und Hemd gekleidet, arbeitet bei einer Krankenversicherung und also fast in der gleichen Branche wie ihr Freund. Sie bekam nach und nach mehr Grund zum Jubeln. Boris Becker und Paul Haarhuis hinterher unisono: „Es war schon die ersten zwei Sätzen eng.“ Dann aber, nach zwei Sunden Spielzeit drehte sich das Spiel. Wie das so zu gehen pflegt: Hauptschiedsrichter und Linienrichter gaben einen Ball für die Deutschen gut, obwohl der für jedermann sichtbar mindestens 20 Zentimeter im Aus gewesen war. Becker & Stich, die bis dahin eher emotionsarm spielten, bekamen hochrote Köpfe – und drehten das Match um (6:7, 6:4, 7:5 und 6:3), nachdem am Freitag Becker gegen Haarhuis verloren hatte (6:4, 2:6, 4:6, 6:7), Stich dafür Krajicek geschlagen (3:6, 6:4, 6:4, 6:4). „Normalerweise muß schon einiges passieren, wenn wir verlieren sollen“, rätselten die Niederländer hernach. „Was passiert ist? Wissen wir nicht.“

Etwas Seltsames. Die Spieler Stich und Becker hatten in schwerer Stunde einen Weg zueinander gefunden. Und wurden, zumindest für Momente, ein echtes Team. In Stichscher Diktion hieß das: „Wir haben uns super ergänzt.“ Taten sie wirklich. Und selten hat man die beiden so herumalbern gesehen, wie am späten Samstag abend nach getaner Arbeit. Das Geheimnis ihres Erfolg, entsprungen geheimnisvollen Riten in den Spielunterbrechungen. Was die beiden taten, zurückgezogen in der Kabine? „Pinkeln, nichts als pinkeln“, hat Michael Stich gesagt. Und Kollege Becker hat gegrinst, dann aber darauf bestanden, er habe „nicht gepinkelt“. Müssen auch nicht alles zusammenmachen! Und über eine rituell besiegelte Blutsbrüderschaft drang auch nichts aus der Kabine.

Auch Dagmar und Heny hatten ihren Spaß. Uneingeschränkt. Auch ihnen, die ihrer Gefühle wegen zwischen Polen hin und her pendeln, blieb bei diesem Daviscup feindliche Atmosphäre und die Erfahrung des Unversöhnlichen erspart. Zwei Paare also haben an diesem Wochenende eine wichtige Erfahrung gemacht: Koexistenz ist möglich! Jetzt!