■ Verdirbt die Macht nur den, der sie nicht hat?
: Kohl wird 65, die SPD 132

An Helmut Kohls heutigem „Runden“ gibt es für ihn niemanden mehr zu über-runden, folglich auch nicht mehr viel zu feiern. Seine beiden sozialdemokratischen Amtsvorgänger begingen ihren 65. bereits außer Diensten, und die politische Vaterfigur hatte in diesem Alter noch schrecklich viel Zeit. Die devote Frage seiner journalistischen Höflinge, wieviel Zeit ihm denn wohl noch bleibe, pflegt der Kanzler inzwischen rhetorisch mit dem Hinweis auf einen bevorstehenden Zahnarzttermin zu beantworten. Gespannt harren die Bonner Auguren schon des Essener Gipfels, hat Kohl doch seine Notwendigkeit im Amt an den unabwendbaren Vollzug seiner EU- Mission geknüpft. Derweil unkt man in Bonn, daß die Dauer seiner Kanzlerzeit vermutlich weniger vom Gesundheitszustand seines designierten Nachfolgers als von dem der großen Oppositionspartei abhängt. Deshalb werden auch inzwischen wieder Wetten angenommen, ob Kohl nach der Enkelgeneration auch die Bundesratsmehrheit der SPD durchsteht und am Ende auch noch seinen nächsten „Runden“, den 70., im Kanzleramt begeht. Eine trostlose Perspektive, zumal sich dieser Kanzler mit der Zunahme an Amtsjahren nicht gerade verfassungsbekömmlicher entwickelt. Seine präsidialen Anmaßungen häufen sich.

Präsidiale Versuchung

Seit Helmut Kohl jedoch nicht mehr mit dem Bräutigamshoden aufs Geschichtsbuch zusteuert, finden manche sogar an der patriarchalischen Verfehlung seines Amtes Gefallen. Hand aufs Herz! Wirken seine Gesten nicht manchmal so richtig sympathisch, wenn er beim gebrechlichen Mitterrand und besoffenen Jelzin den Sanitäter zu spielen versucht oder sich an der Seite des säkularen Jünger auf dem Wilflinger Balkon wie der freundliche Hausherr präsentiert, nur weil er beim 90. und 95. schon mal dagewesen ist?

Vor der präsidialen Versuchung war bislang kaum ein Kanzler gefeit. Das durch die Austreibung Hindenburgs entstandene Machtdefizit des Grundgesetzes in Gestalt eines Verfassungskastraten als Staatsoberhaupt blieb letztlich keinem Regierungschef verborgen:

– Als Adenauer anno 59 mit der Heuss-Nachfolge liebäugelte, mußte ihm sein Kronjurist Schröder erst erklären, daß er als Bundespräsident keine Kabinettssitzungen leiten dürfe. Den Eschenburgs drehte sich der Magen um. Damit war dem Alten von Rhöndorf offenbar das konstitutive Anti-Weimar-Moment des Bonner Grundgesetzes entgangen.

– Als Willy Brandt nach seinem 72er Wahlsieg auf Wolke 7 zu schweben schien, hätten manche aus der Not seiner Amtserschlaffung gern die Tugend einer Arbeitsteilung aus präsidialer (Willy!) und geschäftsführender Kanzlerschaft (Schmidt!) gemacht. Jene neue Konstruktion war Brandt bereits zu Beginn seiner Regentschaft mit der Zentralgewalt Horst Ehmkes als quasi „Unterkanzler“ unterstellt worden.

– Als Kanzler neigte Helmut Schmidt seinerseits zu Allmachtsphantasien, sein Kleeblatt mit Manfred Schüler und Klaus Bölling mußte viel Argwohn über sich ergehen lassen. Die preußische Selbststilisierung vom lediglich Leitenden Angestellten der Staatsfirma Bundesrepublik war blanke Tiefstapelei. Mitunter schien es, als halte Schmidt das Krisenmanagement des deutschen Herbstes schon für den Zustand von administrativer Normalität.

Jener Amtsvorgänger rügt Kohl dieser Tage in der Zeit wegen dessen symbolisch unangemessener Ausladungspolitik gegenüber den Polen: „Zwar bestimmt der Kanzler die Richtlinien der Politik seiner Regierung. Aber er kann nicht den Inhalt eines Staatsaktes des Bundespräsidenten in Berlin bestimmen.“ Kohl kann – dies alles und noch viel mehr. Schon auf der Feier zum 20. Juli im vergangenen Jahr schien er Herzog protokollarisch heimzuzahlen, was ihm unter Weizsäcker an geistig-politischer Noblesse zugemutet worden war.

Noch immer wenn es Kohl zu gutgeht, läuft er aus dem Ruder. Bei seinen Attacken auf ARD und WDR geriet er sogar in seiner eigenen Partei zum Ärgernis. Doch wie nach seinem Debakel mit der Heitmann-Kandidatur vermochte die SPD auch die öffentliche Empörung über den Kohl-Kirch-Deal strategisch nicht umzusetzen.

„Die Macht verdirbt nur den, der sie nicht hat“, pflegte der machiavellistische Großmeister Andreotti gern zu betonen. Und gemutmaßt wurde hierzulande schon am Wahlabend im Oktober, daß das passable SPD-Resultat wohl um so schlechter würde, je weiter der Wahltag zurückliege. Als die Genossen entdeckten, daß der Machtwechsel greifbar nahe war, schafften sie es binnen eines halben Jahres, sich von einer verhaltenen Freude in einen Katzenjammer hineinzusteigern.

Angefressene Opposition

Inmitten einer funktionierenden sozialdemokratischen Streitkultur muß sich Kohls Fritzenkötter auch nicht grämen, wenn er heute, an seines Kanzlers Geburtstag, beim ersten Pusten die 65 Kerzen nicht alle schafft. Während der Jubilar sich ein Stück Frankfurter Kranz munden lassen darf, leckt die SPD noch immer die Vorjahreswunden, die sie sich auf der Bundesversammlung und nach Magdeburg zufügen ließ. – Auch die Niederlage bei der Wahl Antje Vollmers ins Bundestagspräsidium war sicher kein Zuckerschlecken. Sie löste eine schwarz-grüne Medienwoge aus, gegen die man sich in der SPD freilich mehr mit Seeheimer Deichbauern als mit rot-grünen Wellenreitern zu wehren scheint.

Sollte in Nordrhein-Westfalen nach dem Wahlgang am 14. Mai entgegen allen Prognosen eine Koalitionsregierung gebildet werden müssen, dürfte die dortige SPD an ihrem bisherigen Stigmatisierungskurs gegenüber den Bündnisgrünen festhalten. Friedhelm Farthmann geht bekanntlich lieber mit Rohde vespern als mit Vesper ro(h)den! Aber auch der vierte Gewinn der absoluten Mehrheit wird all jenen in der SPD Auftrieb geben, die mehr auf die eigene Stärke als auf künftige Koalitionsmodelle bauen.

Trotz aller realistischen Einschätzungen von Schwarz-Grün – Scharpings Rühr-mich-nicht-an- Haltung gegenüber den Grünen ist nicht ungefährlich. Zudem konfligiert der Oppositionsfrust mit seinem Kohl-Imitat an Beharrlichkeit, notfalls auch auf Filzlatschen das hohe Amt anzustreben. Aber sosehr sie ihn auch von allen Seiten anschießen mögen, morden können sie ihn ernsthaft nicht. In der derzeitigen Verfassung der SPD dürfte der schwarz-grüne Medienschlager zum Legislaturhit werden. Aber noch läuft unser heutiger Jubilar dieses Projektes wegen nicht nachts zum Kühlschrank ... Norbert Seitz

Der Autor ist Redakteur der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“