■ Der türkische Schriftsteller Aziz Nesin (80) im Gespräch
: „Das Kapital ist stärker als ich“

taz: Viele Beobachter befürchten ein Auseinanderbrechen der Türkei, die mit einer Renaissance des kurdischen Nationalismus konfrontiert sei. Der Staat reagiert nur mittels Gewalt. Können die Menschen in der türkischen Gesellschaft überhaupt noch zusammenleben?

Aziz Nesin: Die kurdische Frage ist eine Bürde, die das Osmanische Reich der Republik auflud. Die Menschenrechte, die nirgendwo in der Türkei praktiziert werden, werden bei den Kurden erst recht nicht praktiziert. Im Falle Zyperns sagt die Türkei, jedes Volk müsse frei über seine Regierungform entscheiden. Doch wenn es um Kurdistan geht, behauptet man genau das Gegenteil. Aber auch ich bin gegen die Rede vom Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes. Ich denke, ein wichtiges Prinzip zur Lösung der türkisch-kurdischen oder türkisch-griechischen Frage ist folgendes: Jedes Volk muß sich in die Rolle des anderen hineinversetzen. Wenn ich als Türke nicht die Kurden wie meinesgleichen anerkenne und umgekehrt, kann ich keine angemessene Entscheidung fällen. Die Wahrheit ist doch, daß die Kurden noch weniger als die Türken Menschenrechte genießen. Das kann nicht so weitergehen. Die Türkei erntet nun die bitteren Früchte jahrelanger verfehlter Politik.

Den Begriff der Renaissance, den Sie in Ihrer Frage verwandten, akzeptiere ich keinesfalls. Im kurdischen Falle handelt es sich um einen überalterten, einen zu spät kommenden Nationalismus, einen Nationalismus des Europa im 19. Jahrhundert. Das verheißt bloße Rückständigkeit. Ähnlich der Rückständigkeit der Türken, deren demokratische Bewegung mit jahrhundertelanger Verspätung kommt.

Der Staat setzt auf eine militärische Lösung, auf die Vernichtung der PKK. So wird auch der Einmarsch in den Nordirak begründet.

Weil der Staat nur militärisch agiert, muß er bis zum Letzten gehen. Wären die irakischen Kurden nicht gespalten und wäre der irakische Staat noch intakt, könnte die Türkei dort nicht ohne weiteres einmarschieren. Die Kurden haben keinen Staat. Davon profitiert die Türkei. Doch der Hauptfehler liegt darin, die Lösung nur im Militärischen zu sehen. Das geht schon seit über zehn Jahren so. Wo es keine demokratischen Strukturen gibt, bleibt eben nur das Militär.

Sie sagen, die Lösung liege in der Demokratisierung. Nun gibt es seit über zehn Jahren den bewaffnetten Kampf der PKK. Der Staat hat reagiert – mit der Zwangsevakuierung von ganzen Dörfern, mit der Vertreibung von zwei Millionen Menschen. Reicht nach diesem Zeitpunkt allein die Demokratisierung für den Frieden? Oder braucht es nicht mehr, nämlich den direkten Dialog, das heißt Verhandlungen mit PKK-Chef Öcalan?

Der Staat kann sich natürlich nicht mit Öcalan an einen Tisch setzen. Öcalan repräsentiert keinen Staat. Aber es gibt andere Wege. Wenn man sich nicht direkt mit Öcalan an einen Tisch setzt, kann Man durch Vermittler in den Dialog treten – eine Reihe von Staaten haben das doch so gemacht. Man muß einen Friedensweg finden.

Deutschland hat mit einem Waffenembargo auf den Einmarsch in den Nordirak reagiert. Wie bewerten Sie die Türkei-Politik Deutschlands?

Ich traue keiner Regierung. Ich traue auch nicht der deutschen Regierung. Denn was sagt sie! Ihr könnt nicht unsere Panzer gegen die Kurden einsetzen. Das sagen selbst deutsche Intellektuelle. Das ist beschämend. Gegen wen sollen denn die deutschen Panzer eingesetzt werden? Wozu sind denn Panzer da? Sollen wir sie gegen Griechenland einsetzen? Wichtig ist, daß überhaupt keine Panzer geliefert werden. Und woher kriegen die Kurden ihre Waffen? Sie schießen ja auch nicht mit Pfeilen. Die USA beliefern sowohl Griechenland wie die Türkei mit F-16-Bombern. Deutschland hat Fabriken im Irak mitgebaut, wo C-Waffen produziert wurden. Ich habe Deutsche gefragt, was daraus geworden ist. Viele wissen noch nicht einmal von der Sache.

Ich traue den Regierungen nicht. Sie sind, um die eigene soziale Stabilität im Innern zu gewährleisten, zu jeder Niederträchtigkeit bereit. Egal ob Franzosen, Briten, Deutsche oder Türken. Und mit Waffengeschäften verdient man eben Geld. Überall sind Kriege ausgebrochen. In Ruanda, Bosnien, Aserbaidschan und Armenien. Wer schürt denn diese Konflikte? Die kleinen Staaten wie die Türkei sind nur Handlanger für die Waffenschieber. Wir Türken brauchen keine Waffen, die Griechen brauchen auch keine Waffen. Heutzutage ist viel die Rede von der Globalisierung. Wie aber soll das vaterlandslose Kapital leben ohne diese Kriege?

Kommen wir vom Globalen zum Lokalen zurück. Wie ist der Einsatz für Frieden im türkisch- kurdischen Konflikt möglich?

Wir haben mehrere Initiativen gestartet1 mit „wir“ meine ich türkische und kurdische Intellektuelle. Doch wir werden behindert. Als türkische Intellektuelle wegen der abgebrannten Dörfer einen Untersuchungsausschuß bildeten und in das Gebiet reisten, wurden sie mit Waffen empfangen. Die Gewalt ist überall, es ist nicht nur eine Frage der Gesetze. Dorfmilizionäre, Soldaten richten die Waffen auf uns. Was tun? Also den Tod ins Auge fassen. Sterben – aber auch das bleibt ohne Folgen. Meine Lösungsvorschläge als Intellektueller sind ohnehin nichts wert. Letztlich entscheidet doch das Kapital. Wenn es will, wird es Türken wie Kurden zur Räson bringen. Die Macht des Kapitals reicht weit, meine nicht.

Sie sagen, der türkische Staat handele nicht im laizistischen Sinne. Nach den blutigen Ereignissen in Istanbul wird nun die Forderung aufgestellt, auch der Alewitismus solle beim Religionsunterricht gelehrt werden und die Alewiten sollten am „Amt für religiöse Angelegenheiten“ beteiligt werden.

Was soll das? Dann muß auch ein Vertreter der Atheisten beim „Amt für religiöse Angelegenheiten“ seinen Platz einnehmen. Das ist Unsinn und verschärft nur den Konflikt. Es führt zu Spannungen zwischen Sunniten und Alewiten innerhalb des „Amtes für religiöse Angelegenheiten“. Die Lösung ist einfach: Jede Religion, jede Konfession muß autonom sein. Innerhalb des geltenden Rechts können die Gläubigen dann tun und lassen, was sie wollen.

Kann es zum Bürgerkrieg kommen?

Ich fürchte selbst den Gedanken daran. Doch es herrschen ja Verhältnisse, die in diese Richtung weisen. Menschen werden getötet. Ein Teil der Lebenden steht unter bewaffnetem Personenschutz. Wir müssen Toleranz üben. Türken, Kurden, Muslime, Alewiten oder Atheisten – wir müssen endlich lernen, miteinander zu leben. Interview: Ömer Erzeren